Krise der Kirche. Die Bedeutung der „freien Werke”

Was ist genau die Krise der Kirche? Was ist das „Evangelium für die Spätmoderne”, wen oder was gilt es von was zu erlösen?

Kernbotschaft von Frau Prof. Dr. Uta Pohl-Patalong, Kiel (Vortrag auf dem Kongress der AMD im Mai 2025): Die christlichen Werke, die sich in der Arbeitsgemeinschaft missionarische Dienste versammeln hätten einige wichtige Botschaften zur Krisenbewältigung der Landeskirchen…

In ihrem Vortrag (hier als PDF) analysiert sie die aktuelle Krise der Kirche (finanziell, Relevanz, Personalmangel) und argumentiert, dass grundlegende Veränderungen notwendig sind, um ihren Auftrag der „Kommunikation des Evangeliums" in der spätmodernen Gesellschaft weiterhin wirksam zu erfüllen. Dabei werden insbesondere Dienste, Werke und Einrichtungen (nicht-parochiale Formen) als wichtige Impulsgeber für die zukünftige Gestalt der Kirche herausgestellt.

Hauptthemen und wichtige Ideen:

0. Die vielschichtige Krise der Kirche:

Die Kirche befindet sich in einer tiefen Krise, die von Kirchenaustritten, finanziellen Einbussen und Skandalen sexueller Gewalt geprägt ist.

Die Krise ist nicht neu (Relevanzkrise in den 1960ern, Finanzkrise in den 1990ern), hat sich aber in den letzten 15 Jahren massiv verschärft und ist eng miteinander verbunden.

Eine dritte, neue Krise ist der rasante Rückgang des Hauptamtlichenpersonals, insbesondere der Pfarrpersonen. Dieser Rückgang wird sich in sehr kurzer Zeit noch einmal deutlich verstärken.

Zitate:

"Spricht man heute über die Kirche, so spricht man in der Regel über die Krise der Kirche." (S. 1) "Heute jedoch haben wir eine Situation, in der beide Strategien – das Nebeneinander von traditionellen und innovativen Formen und die Kürzung im Bestehenden – nicht mehr funktionieren können. Denn zum einen haben sich sowohl die Finanzkrise als auch die Relevanzkrise in den letzten 15 Jahren massiv verschärft – und es ist nicht mehr zu übersehen, dass sie eng miteinander zusammenhängen und die eine nicht ohne die andere angegangen werden kann. Zum anderen ist eine dritte Krise hinzugekommen: Die Hauptamtlichen und besonders die Pfarrpersonen sind weniger geworden und werden in sehr kurzer Zeit noch einmal deutlich weniger werden." (S. 2)

Die Zahl der Kirchenaustritte hat seit 2014 eine neue Dimension erreicht und lag 2022 und 2023 auf einem historischen Höchststand.

Das vielleicht wichtigste Ergebnis der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (2022) ist: Nur noch 35% der Evangelischen geben an, dass ein Kirchenaustritt für sie nicht in Frage kommt (im Vergleich zu 74% im Jahr 2012). Dies zeigt einen Paradigmenwechsel im Verhältnis zur Kirche: Die selbstverständliche innere Bindung ist stark zurückgegangen.

Menschen treten heute meist aus, weil die Kirche für sie nicht relevant oder plausibel erscheint, nicht aus explizitem Protest.

Die Relevanz und Plausibilität der Kirche muss heute aktiv und konkret erlebt werden.

1. Der theologische Auftrag der Kirche und seine Konsequenzen:

Der Auftrag der Kirche wird als "Kommunikation des Evangeliums" verstanden.

Dies bedeutet,

"möglichst vielen Menschen Begegnungschancen mit der unbedingten Liebe Gottes für sie selbst und für die gesamte Schöpfung zu eröffnen." (S. 3)

Die Erfüllung dieses Auftrags zeigt sich darin, dass Menschen im persönlichen Leben den Wert der christlichen Botschaft spüren (z.B. Lebensvertrauen, Unterstützung in Krisen, soziale Verantwortung).

Die Organisationsformen der Kirche müssen sich daran messen lassen, wie gut sie Begegnungen mit Gottes Liebe für unterschiedliche Menschen fördern. Dies geschieht, wenn Angebote plausibel und relevant sind.

2. Die Ortsgemeinde in der Krise und die Notwendigkeit grundlegender Veränderung:

Die verfasste Kirche investiert den Grossteil ihrer Ressourcen in die Ortsgemeinde, eine Form, die zwei grundlegende Schwierigkeiten aufweist:

  • Sie ist nur für eine Minderheit der Kirchenmitglieder plausibel und gut zugänglich (ca. 10-15%).
  • Sie ist enorm ressourcenaufwendig (personalintensiv und teuer) aufgrund der Kombination von Flächenabdeckung, Anspruch auf persönlichen Kontakt/Gemeinschaft und breitem Angebotsspektrum.
  • Die Grundzüge der Ortsgemeinde stammen aus Epochen, in denen die Kirche selbstverständlich war und setzen implizit religiöse Sozialisation, fraglose Zugehörigkeit und Kontinuität voraus. Dies reibt sich mit der spätmodernen Selbstverständlichkeit, selbst über Bezüge und Relevanzen zu entscheiden.
  • Das System der Ortsgemeinde wird bei sinkenden Ressourcen und Personal voraussichtlich kollabieren, was die Aufrechterhaltung von Flächenabdeckung, persönlichem Kontakt und breitem Angebotsspektrum unmöglich machen wird.
  • Angesichts des raschen Rückgangs von Mitgliedern, Geld und Hauptamtlichen sowie exponentiell steigenden Ausgaben ist eine grundlegende Veränderung dringend notwendig. Die Alternative könnte sein, dass die Kirche ihre gesellschaftliche Relevanz verliert (vergleichbar mit den Niederlanden).

Zitate:"Bislang investiert sie den größten Teil ihrer Ressourcen in eine Form, die zwei Schwierigkeiten in sich vereinigt: Zum einen ist die Ortsgemeinde nur für eine Minderheit von Kirchenmitgliedern plausibel und gut zugänglich... Zum anderen ist die traditionelle Kirchengemeinde enorm ressourcenaufwendig, also personalintensiv und teuer." (S. 4)
"Angesichts der Erfahrungen in anderen Ländern [bei weiterem Rückgang] bin ich skeptischer, zumal wir in Deutschland viel weniger als in anderen Ländern eine starke Tradition verantwortlicher Eigeninitiativen haben..." (S. 5)

3. Konsequenzen für das Verhältnis der Kirche zu den Werken:

  • Wenn die Kirche sich konsequent am Auftrag der Kommunikation des Evangeliums orientiert, verändert dies ihr Verhältnis zu den Werken.
  • Werke würden nicht länger als Ergänzung oder zusätzliche Strukturen betrachtet, sondern als gleichberechtigte Formen von "Kirche" (im theologischen Sinne), die auf unterschiedlichen Wegen den gleichen Auftrag erfüllen.
  • Ressourcen würden nach ihrer Sinnhaftigkeit für den Auftrag verteilt, nicht nach Strukturen und Machtverhältnissen. Dies erfordert einen erheblichen Kulturwandel.
  • Die nicht-parochialen Formen (innerhalb und ausserhalb der verfassten Kirche) besitzen Charakteristika und Traditionen, die für die kirchlichen Zukunftsüberlegungen enorm wertvoll sind.

4. Impulse der nicht-parochialen Formen für die Zukunft der Kirche:

  • Von der Aufgabe her denken: Werke gehen von Handlungsfeldern und den Bedürfnissen der Menschen aus, nicht vom territorialen Zuweisungsprinzip der Ortsgemeinde. Sie stärken die Orientierung am Auftrag statt an Strukturen.
  • Exemplarisches Arbeiten: Werke sind oft für bestimmte Aufgaben entstanden und realisieren eine bewusste und konsequente exemplarische Orientierung, die für die Kirche unumgänglich wird, da der Anspruch auf Allzuständigkeit der Ortsgemeinde nicht mehr haltbar ist. Ressourcen sollten dort eingesetzt werden, wo sie angesichts des kirchlichen Auftrags am sinnvollsten sind.
  • Kirche als Netzwerk gestalten: Werke kooperieren bereits und schliessen sich zu Netzwerken zusammen. Dies ist ein Modell für die Gesamtkirche auf ihrem Weg zum Netzwerkcharakter.
  • Unterschiedliche Formen von Gemeinschaft: Werke ermöglichen vielfältige Formen christlich geprägter Gemeinschaft (auch zeitlich begrenzt oder digital), die nicht an den wöchentlichen Rhythmus und die Kopplung von Religion und Geselligkeit der klassischen Ortsgemeinde gebunden sind.

Zitat: "Mit vielfältigen Zugängen zur Kirche muss auch der Gemeinschaftsbegriff neu gedacht werden. Die für die klassische Ortsgemeinde typische „Kopplung von Religion und Geselligkeit“, verbunden mit der Idee von Kontinuität in einem wöchentlichen Rhythmus, wäre dann eine Möglichkeit, an der Gemeinschaft Jesu Christi teilzuhaben, neben der andere gleichberechtigt sind." (S. 7)

  • Voraussetzungslose Zugänge ermöglichen: Viele Werke setzen keine bestehende christliche Prägung voraus, sondern richten sich auf niedrigschwellige Erstbegegnungen mit christlicher Kultur. Dies ist für die Zukunft der Kirche wesentlich.
  • Menschen als Subjekte wahrnehmen: Werke gehen oft von einer aktiven Entscheidung von Menschen für ein spezifisches Angebot aus und orientieren sich an der Partizipationslogik der Menschen. Die Kirche muss ihre Arbeit an dieser Subjektorientierung ausrichten.
  • Ausrichtung an einer Unterstützung des Alltags der Subjekte: Der „Lebensgewinn" durch den Kontakt zur Kirche sollte im Alltag der Menschen spürbar sein. Dies ist entscheidend für die Erfahrung von Relevanz.
  • Zugangslogik über Inhalte,die von Beziehungen zu Personen unterstützt werden: In Werken sind Personen wichtig, aber sie bilden in der Regel nicht den zentralen Zugangspunkt zu den Inhalten. Die Plausibilität und Relevanz der Inhalte stehen im Vordergrund, die Beziehungen unterstützen dies. Dies erscheint sinnvoller als der traditionelle Fokus auf die Pfarrperson als „Gesicht vor Ort".
  • Funktional nach den Kompetenzen von Berufsgruppen fragen: Werke sind oft schon immer auf die Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen angelegt. Dies entspricht der aktuellen Tendenz in der Kirche, Arbeit in multi- oder interprofessionellen Teams zu organisieren, was den komplexen Anforderungen der Spätmoderne besser entspricht und den Bedürfnissen jüngerer Generationen entgegenkommt.
    - Dem „neuen Ehrenamt" folgen: Ehrenamtliches Engagement in Werken orientiert sich oft an konkreten Handlungsfeldern, ist klar strukturiert und gut begleitet. Dies entspricht dem Typus des „neuen Ehrenamtes" und bietet gute Chancen für die Kirche, sich als attraktives Feld für freiwilliges Engagement zu profilieren.

5. Konsequenzen für die Zukunft der Werke:

Würden die Impulse der Werke leitend für die künftige Gestalt der Kirche, würde sich das traditionelle Gegenüber von parochialen und nicht-parochialen Formen sowie von verfasster Kirche und freien Werken auflösen.

Es käme zu einer gemeinsamen Suche nach Formen, um dem gemeinsamen theologischen Auftrag in der spätmodernen Gesellschaft gerecht zu werden.

Alle Formen könnten sich gegenseitig in ihren Suchprozessen anregen.

Rechtliche Formen könnten flexibler an der Sinnhaftigkeit und bestmöglichen Dienst am Auftrag ausgerichtet werden.

Energien würden nicht für Abgrenzung oder Integration verschwendet, sondern für die inhaltliche Arbeit genutzt.

Schlussfolgerung:

Der Vortrag plädiert für eine grundlegende Transformation der Kirche, die sich von traditionellen, ressourcenintensiven und für viele Menschen nicht mehr relevanten Formen (insbesondere der Ortsgemeinde) löst und stattdessen die Stärken und Charakteristika der Dienste, Werke und Einrichtungen aufgreift. Diese nicht-parochialen Formen werden als wegweisend für eine zukünftige Kirche betrachtet, die vielfältige, plausible und relevante Zugänge zur "Kommunikation des Evangeliums" für eine breitere Palette von Menschen ermöglicht. Eine solche Veränderung würde auch das Verhältnis zwischen der verfassten Kirche und den freien Werken neu definieren und zu einer gemeinsamen, am Auftrag orientierten Suche nach zukunftsfähigen Formen führen.


Mein Kommentar:

Finde den Fehler...

Richtig und gut ist erstmal:

  • Kirche als Netzwerk gestalten
  • Exemplarisches Arbeiten
  • Ausrichtung an einer Unterstützung des Alltags der Subjekte
  • Oder: »Zugangslogik über Inhalte, die von Beziehungen zu Personen unterstützt werden: In Werken sind Personen wichtig, aber sie bilden in der Regel nicht den zentralen Zugangspunkt zu den Inhalten. Die Plausibilität und Relevanz der Inhalte stehen im Vordergrund, die Beziehungen unterstützen dies. Dies erscheint sinnvoller als der traditionelle Fokus auf die Pfarrperson als „Gesicht vor Ort”.»

Problematisch bleibt die Grunddefinition:

Der Auftrag der Kirche wird als „Kommunikation des Evangeliums" verstanden: „möglichst vielen Menschen Begegnungschancen mit der unbedingten Liebe Gottes für sie selbst und für die gesamte Schöpfung zu eröffnen.” War und ist das das „Evangelium"? Ein Versuch, das apokalyptische Evangelium für die Zeit Jesu oder später dann für die Zeit des Paulus zu definieren ist in historisch-narrativer Perspektive eher so zu beschreiben: „Die Leitung des Volkes verfehlte die Tora, die Folgen waren die Strafgerichte: Imperiale Übernahme des Landes durch die Römer. Die Rettung ist ein Machtwechsel durch den neuen Imperator des Gottes Israels Jesus, den Christus." Es geht also um die politische Ansage eines Umsturzes… Wie müsste man das Evangelium heute konstruieren? Wer kann die politische Botschaft von damals für das biblische Volk Israel (das „Gottes-Volk”) in ein Heute in völlig anderen demokratischen Zeiten mit anderen Politiken anwenden oder neu formulieren? z.B. in der Form von Greta, die den Mächtigen zuschrie: „I want you to panic!"

Könnte es nicht vielmehr so sein, dass die Krise der Kirche eine Fehldeutung des Evangeliums und damit das nicht passende Evangelium für unsere Generation ist, bzw. ein zu individualisierendes Evangelium (spirituelle Rettung des „sündigen Einzelnen” für den Himmel?) und/oder eine moderne Variante des 19. Jh. eine mehr politischer formuliertes Evangelium: die Motivierung einzelner für „Reich-Gottes-Taten" = Kingdom-Fokus ist drin (bis zu Albert Schweizers „Ehrfurcht vor dem Leben"). Welche Korporalen Strukturen einer solidarischen Widerstandsgruppe müsste Kirche heute im neuen imperialen Zeitalter repräsentieren? Z.B. die Form der „neuen Generation”, die im politischen Untergrund/Widerstand lebt?

Wie müsste eine Kirche also als Organisation inhaltlich und ganzheitlich-sprituell auf die Klimakatastrophen-Krise (und all die darunter sich ereignenden Mutlikrisen) reagieren? Mit welchem „solidarisches Verhalten fördernden” Evangelium (das Gute für heute ohne Hopium auszuteilen)? Die Ekklesiologie ist das Problem: Waren Gemeinden des Paulus nicht ausdrücklich solidarische Überlebensinseln für Opfer des Imperiums in einem untergehenden Imperium Romanum? Als Übergangslösung für ein kommendes 1000jähriges Friedenszeitalter? Also ein Evangelium in Wort und Erleben in apokalyptischen Zeiten...

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