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Weihnachten 2024: Helge Seekamp, Pfarrer i.R., Lemgo/Lippe, schreibt den Appell der Journalistin Sara Schurmann, den „Offenen Brief vom 7. September 2020“ (lang ist es her!) an ihre Zunft hiermit einmal um und richtet einen Appell an die Theolog:innen, bzw. die praktischen Verkünder:innen, das theologisch geschulte Fachpersonal der Kirche, die Pastor:innen, Religions- und Gemeindepädagog:innen. Was müssten Kirchenvertreter:innen im Blick auf die Gesamtlage der akuten Metakrise seiner Ansicht nach fokussieren und was ist 2025 zu tun oder zu lassen und vor allem: was ist zu verkündigen? Stellt euch (wie hier erlaubt) auf eine schonungslos ehrliche Erweckungsbotschaft 2024 ein. Und vergleicht sie mit den realen (Weihnachts-)Predigten, die ihr hört.
Theolog:innen und Pfarrer:innen, pädogog:innen, nehmt die Klimakrise endlich ernst
von Sara Schurmann, angeregte Paraphrase ihres Appells an Journalist:innen (vgl. hier in Übermedien) 2020 veröffentlicht. Seitdem sind 4 Jahre ins Land gegangen...
Der Theologe Helge Seekamp hat einen offenen Brief verfasst, in dem er Theolog:innen dazu aufruft, die Klimakrise endlich in ihrem ganzen Ausmaß anzuerkennen – und das eigene Handeln danach auszurichten: Sie sollten bei jeder Predigt oder Veranstaltung die Auswirkungen auf das Klima mitdenken. Liebe Theolog:innen! Wir sind das Problem, wenn wir uns und unser Evangelium nicht radikal ändern.
Braunkohleverbrenn-Weltmeister in realen Zahlen, Deutschland (wusstest du das?), entscheidet beim „Kohlekompromiss” 2020, erst 2038 aus der Kohle auszusteigen – und es war eben nicht wochenlang ein Skandal. Oder: Die EU beschließt 2020 ein riesiges Corona-Finanzpaket – und Theolog:innen berichten in ihren Veröffentlichungen oder Predigten, wenn überhaupt wenig. Forscher:innen diskutieren tagelang öffentlich, ob der Grönländische Eisschild nun unaufhaltsam schmilzt – und daraus wird in den meisten Fällen nicht mehr als ein Satz in der Sonntagspredigt, wenn überhaupt.
Das zeigt: Auch viele Theolog:innen scheinen noch immer nicht verstanden (wahrscheinlich eher: verdrängt!) zu haben, wie ernst die Klimakrise ist und an was für einem historisch entscheidenden Punkt wir gerade stehen. Vielen von uns ist zwar (eigentlich) bewusst, wie sehr diese Krise unsere eigene Zukunft und die unserer Kinder und Enkel:innen konkret und unmittelbar bedroht. Aber was heißt das genau?
„Es tut mir leid, Ihnen das zu sagen, aber 1,5 Grad haben wir längst verpasst und auch die 2 Grad werden wir wahrscheinlich reißen. (…) Wir sind immer noch planetare Geisterfahrer.“ Prof. Dr. Mojib Latif , Meeresbiologe
Bei heutigen Emissionen werden wir in etwa zehn Jahren das gesamte verbleibende CO2-Restbudget verbraucht haben. Es bleiben also weniger als zehn Jahre, um die Erderwärmung unter 2 Grad (die Durchschnittstemperatur wird 2024 wohl 1,61 Grad über dem vorindustriellen Durchschnitt liegen,) gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu halten. „1,5 Grad” sind nur noch im Rückspiegel sichtbar, trotzdem geben wir uns als Gesellschaft immer mehr der „Klimamüdigkeit” hin. Zehn Jahre, in denen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft entschlossen handeln und die CO2-Emissionen weltweit halbieren müssten. Das geht nicht, ohne die Wirtschaft(slogik) komplett (Kreislaufwirtschaft) umzubauen, sowie das Wirtschaftswachstums-Paradigma des Kapitalozäns aufzugeben (Empire besiegen / Gerechtigkeit und Frieden / Degrowth sind angesagt)
Als Aktivist und Politikwissenschaftler habe ich noch nie einen politischen Prozess beobachtet, der so abgefuckt irrational ist, wie unsere “Klimapolitik” Und: das Klima kollabiert jetzt!“
Diese Sätze hat jede:r Theologi:in schon hundertfach gelesen und gehört. Viele von uns haben sie selbst schon erwähnt oder aufgesagt. Was sie bedeuten, scheint allerdings zu wenigen von uns wirklich mit konkreten inneren Bildern bewusst zu sein. Sonst würden wir es den Politiker:innen und der Industrie nicht so einfach durchgehen lassen, dass sie seit Jahren nicht danach handeln.
Wir kennen Daten und Fakten, verstehen sie aber nicht
Wenn wir deutlich unter zwei Grad bleiben wollen – und das haben aus gutem Grund immerhin fast 190 Staaten im Pariser Klimaabkommen vertraglich vereinbart –, war 2020 das Jahr, in dem die Staatengemeinschaft beginnen musste, den CO2-Ausstoß konsequent zu reduzieren. Soweit, so bekannt. Und was ist 2024 im Rückblick daraus geworden? Nix. Mehr ist es geworden. Aber was bedeutet das wiederum für das Klima?
Jetzt sofort zu handeln ist kein Vorschlag, nicht eine Möglichkeit unter vielen. Es ist letztlich der einzige Weg, den die Wissenschaft sieht, um das jetzt 1,8 Grad-Ziel einzuhalten.
Nichts davon ist spekulativ: es ist unmöglich, es gibt absolut keine Chance (Null. Nicht eine Null-Punkt-Null-Punkt-Null-Punkt-irgendwas-Chance, sondern Null), den Klimakollaps noch zu „verhindern”. Kollapsleugnen ist das neue Klimaleugnen.
Tadzio Müller (hier)
Die Wissenschaft, das ist nicht irgendwer. Das sind mehr als 700 unabhängige Expert:innen aus 90 Ländern, die im Auftrag der Vereinten Nationen die IPCC-Berichte als Grundlage für wissenschaftsbasierte Entscheidungen in der Klimapolitik erstellen, in jahrelanger Arbeit. Expert:innen, die 2018 nach der Veröffentlichung des Sonderberichts zu 1,5 Grad erzählten, dass sie teils selbst weinen mussten, weil wir derart überwältigenden Herausforderungen gegenüberstehen. Das war 2020 schon vier Jahre her. Jetzt sind es 8 Jahre, in denen die Politik so gut wie nichts Weichenstellendes getan hat.
Uns Theolog:innen scheinen sie keine Angst zu machen, diese ganzen Meldungen über immer neue Temperaturrekorde, stärkste Hurrikane, Dürrejahre in Deutschland, Überflutungen und aussterbende Tiere. Gut, unserer Zunft ist schon klar, dass diese Nachrichten nicht ganz unbedeutend sind, wir erwähnen sie pflichtbewusst am Rande unserer Arbeit.
Aber viele von uns scheinen das Gesamtbild gar nicht mehr zu sehen, das diese Meldungen ergeben. Wir machen uns – und anderen – nicht klar, was all diese Entwicklungen zusammengenommen für die Welt bedeuten, in der wir leben. Doch genau das wäre unser Job. Wir sind doch die „Gesamtbild”-Profis. Ja, es geht um das Evangelium.
Warum kommunizieren Wissenschaftler:innen nicht klarer?
Aber wenn alles so dramatisch ist, warum sagt das dann nicht einfach irgendjemand? Nun, die Klimaforscher:innen sagen es seit Jahren. Die ganze Zeit. Nur leider müssen sie, um sich wissenschaftlich abzusichern, immer in Wahrscheinlichkeiten und Spielräumen sprechen. Denn natürlich besitzen sie keine Glaskugeln, niemand kann mit 100-prozentiger Sicherheit sagen, ob wir in 30 Jahren bereits einen Bürgerkrieg um Wasser in Europa führen werden.
Die Wissenschaftler:innen sagen immer: »Wir haben noch Zeit, das Schlimmste zu verhindern, wenn wir jetzt handeln.« Was wir hören ist: Wir haben noch Zeit.
Jahrelang wurde Klimaforscher:innen gesagt, sie hätten zu negativ kommuniziert, das entmutige die Menschen nur. Es werden ihnen bis heute Alarmismus, Aktivismus oder sogar Eigeninteresse unterstellt. Nun waren viele von ihnen ausgerechnet an dem Punkt zu einer optimistischeren Kommunikation übergegangen, an dem es fast zu spät ist, um zu handeln – und wieder versteht sie niemand. Zur Zeit wendet sich die Stimmung unter den Forschenden. Sie suchen nach Wegen, wie das Desaster zu kommunizieren sei.
Die Wissenschaftler:innen sagen immer: „Wir haben noch Zeit, das Schlimmste zu verhindern, wenn wir jetzt handeln.“ Was wir hören ist: „Wir haben noch Zeit.“
Außerdem denken offenbar viele von uns: Wir handeln doch längst. Nun, die Rhetorik hat sich geändert. Die große Koalition hat ein Klimapaket beschlossen, die Bundeskanzler wurde 2020 als „Klimakanzler“ gewählt. War es aber nicht. Merkel hatte zwar noch angemahnt, es dürfe kein „Pillepalle“ mehr in der Klimapolitik geben und vom EU-Finanzpaket sollen 30 Prozent für Klimaschutz ausgeben werden. Die anderen 70 Prozent sollen mit den Zielen des Pariser Abkommens in Einklang stehen, dem Klima also immerhin nicht schaden, heißt das. Wie das aber gehen soll, wenn sie für „klassische” Wirtschaftsförderung verwendet werden, verrät der Plan nicht.
Und: Seit die Ampel regiert, hat der grüne Wirtschaftsminister mit der Energieversorungskrise durch den Überfall Russlands auf die Ukraine zu kämpfen und ja, nach 2 Jahren ist ihm gelungen, die Preise für Gas und Benzin wieder zu stabilisieren, doch der FDP-Flügel mauert, was Klima-Sektorenziele angeht (Verkehrsminister) - und zerstört am Ende sogar zum parteitaktischem Machterhalt die Koalition! Zu wenige Theolog:innen machen die akute Lage in ihren politisch-sozialen und regional-klimatischen Dimensionen ihrer Orts-Gemeinde bewusst.
2022 war das Klima auf der EKD-Synode großes Thema
Was tut die Kirche? Unter dem Motto „Evangelische Kirche(n) auf dem Weg zur Klimaneutralität 2035“ sprachen der christliche Sozialethiker Prof. Markus Vogt (München), der Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, Oliver Foltin, und die Beauftragte für Schöpfungsverantwortung in der EKD, Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt und die Klimaaktivistin Aimée van Baalen (Sprecherin von Letzte Generation).
Die synodale Debatte zu diesem Themenkomplex soll nicht nur punktuell, sondern dauerhaft geführt werden. Die Synode hatte im vergangenen November 2023 beschlossen, eine Roadmap für einen verbindlichen EKD-weiten Prozess zur Klimaneutralität bis 2035 sowie verbindliche Überprüfungs- und Anpassungsmechanismen erarbeiten zu lassen.
Im September 2022 haben Kirchenkonferenz und Rat der EKD eine Richtlinie verabschiedet, die einen Standard für den kirchlichen Klimaschutz beschreibt, an dem künftig die rechtlichen Regelungen der Landeskirchen gemessen werden können.
Durch die neue Klimaschutzrichtlinie 2022 sollen bis 2035 im Raum der EKD 90 Prozent Netto-Treibhausneutralität erreicht werden. Klimaneutralität soll 2045 erreicht werden. Großes Absichten, die Finanzen und überforderte Gemeinden und fehlende Handwerker:innen werden samt dem fehlenden Gefühl für die mangelnde Dringlichkeit zu nichts führen.
Landesbischöfin Kühnbaum-Schmidt stellt bewegend und richtig die Dimension der Metakrise klar:
„Die Transformation kann nur gelingen, wenn einzelne Institutionen eine Vorbildrolle übernehmen.“ Dazu brauche es aus Sicht von Professor Vogt auch Widerstand gegen die Denkgewohnheiten und Organisationsformen der naturvergessenen Zivilisation, von der die Kirchen über Jahrhunderte ein wesentlicher Teil seien und zu erheblichen Teilen noch sind: „Es braucht die Erinnerung, dass wir verletzlicher Teil der Schöpfung sind und nicht ihr Gegenüber. Es braucht eine Erneuerung der Schöpfungstheologie. Es braucht inneren Widerstand gegen die Konsumgewohnheiten in der expansiven Moderne, in die wir alle verstrickt sind. Es braucht eine ‚Große Transformation‘.“
Zudem hat die Klimaaktivistin Aimée van Baalen (Sprecherin, Letzte Generation, die 2025 nicht mehr so heißen wird, weil...) einen dringenden Appell an die 128 Synodalen gerichtet: „Es ist an der Zeit, Risiken einzugehen. Denn jetzt zu schweigen, ist das größte Risiko von allen.“ Sie hob hervor, dass die evangelische Kirche eine wichtige Partnerin für die Klimaaktivist*innen sei:
„Appellieren Sie an die Politik. Helfen Sie uns, eine Verhandlungsposition zu erhalten. Unterstützen Sie uns.“ Sie sagt weiter: „Wir brauchen Sie, um nicht nur das Hoffen, sondern auch das Fordern der lebenswerten und gerechten Zukunft aufrecht zu erhalten. Vielen Dank, dass Sie sich solidarisieren.“ Und betonte die Dringlichkeit des Klimaprotestes: „Wir müssen uns jetzt trauen, etwas zu sagen. Sonst lassen wir Milliarden Menschen weltweit und die junge Generation im Stich.“
YOUTUBE: https://youtu.be/zR-bF2JA1N0
Was bisher getan wird und geplant ist, ist aber lange nicht genug und passiert viel zu langsam und ohne die nötige Dringlichkeitsüberzeugung, da ist sich die Wissenschaft einig. Selbst regierungsnahe Organisationen und Think Tanks kritisieren das immer wieder, auch Journalist:innen und Theolog:innen.
Wir verkennen, was die Klimakrise mit unserem Leben zu tun hat
Auf der EKD-Synode gab es aufrührende Apelle: Wie eine Transformation gelingen könne, skizzierte Oliver Foltin.
„Entscheidend wird vor allem sein, in den kommenden fünf bis zehn Jahren die Treibhausgasemissionen drastisch zu senken, denn nur so werden wir einen wirklichen Beitrag zum Klimaschutz und zur Begrenzung der Erderwärmung leisten.“
Nur: So richtig zu beunruhigen scheint das Wenige von uns. Denn was hat die Klimakrise schon akut mit dem Leben hier in Europa zu tun? Sie scheint weit weg, zeitlich und räumlich. Sie betrifft Menschen in der Sahel-Zone, ein paar indigene Völker und vielleicht unsere Ur-Ur-Enkel, denken viele wohl und schieben den Gedanken flugs wieder weg. Sie betrifft diejenigen, denen wir Theolog:innen uns in den Gemeinden verpflichtet fühlen, also nur am Rande: unsere Gemeindemitglieder, Predigthörer:innen. Und sie betrifft vor allem eine Gruppe nicht, und zwar uns etablierte Bildungsbürger:innen mit ökologischem Gewissen und oft sogar Grünenwähler:innen.
Das ist zynisch, ungerecht und: falsch!
Bäume im Harz
Denn die Klimakrise ist längst da, auch in Deutschland: Wir sehen Niedrigwasser in Elbe und Rhein, massives Waldsterben, nicht nur im Harz und der Sächsischen Schweiz, weniger Insekten, mehr Quallen, mehr Dürren, Hitzewellen, Ernteausfälle und erste Trinkwasserknappheit. Die Gletscher in den Alpen schmelzen, die Permafrostböden tauen und machen die Berge brüchig, auch in Österreich und der Schweiz. Hochwasserkatastrophen im Aartal und Osteuropa, Österreich, Süddeutschland. Ich rede nur von unserem Nahraum!
Die „nächsten Generationen“, die die Folgen der Klimakrise tragen müssen, sind nicht weit weg. Es sind Jugendliche und Kinder, die bereits geboren sind. Es sind unsere Kinder, hier in Europa und weltweit. Sie quälen sich schon mit der Klimaangst rum, die wir erfolgreich verdrängen.
Warum predigen wir nicht, was die Klimakrise für uns und unsere Kinder bedeuten wird?
Kinder, die heute zur Welt kommen, werden oft noch zur Grundschule gehen, wenn wir im eher wahrscheinlichen Fall schon 2030 die 2-Grad-Marke dauerhaft durchbrechen und auf die 3 Grad-Marke starren.
Lassen Sie mich das übersetzen: Sie haben einen dreijährigen Sohn? Er wird dann knapp 9 Jahre alt sein. Sie haben eine fünfjährige Enkelin? Sie wird etwa 11 sein. Sie könnten sich vorstellen, in fünf Jahren ein Kind zu bekommen? Ich denke, Sie haben den Punkt verstanden.
Wenn diese Kinder alt genug sind, um Ihnen zu erklären, wie ernst unsere Lage ist, wird es zu spät sein, um unter 1,8 Grad oder denn 2 Grad zu bleiben. Jenseits der 1,5 Grad sind wir schon.
„Es tut mir leid, Ihnen das zu sagen, aber 1,5 Grad haben wir längst verpasst und auch die 2 Grad werden wir wahrscheinlich reißen. (…) Wir sind immer noch planetare Geisterfahrer.“ Prof. Dr. Mojib Latif , Meeresbiologe
Aber die Klimakrise betrifft nicht nur unsere Kinder, sie betrifft auch uns selbst. Sie sind 52? Dann werden Sie knapp 58 sein, wenn wir unsere Chance auf eine Welt mit einem stabilen Klima vielleicht schon endgültig verspielt haben werden. Sie haben der aktuellen Lebenserwartung zufolge dann rein rechnerisch noch knapp 30 Jahre, in denen Sie die immer dramatischer werdenden Folgen der Klimakrise hautnah erleben dürfen.
Das heißt: Sie werden mehr Dürren sehen, mehr Überschwemmungen, mehr Klimaflüchtlinge, mehr politische Demokratie-Zusammenbrüche, wie sie gerade mit dem Rechtsruck ihre Anfänge nehmen. Nicht im Fernsehen, nicht auf den Bildern, die Ihre Kolleg:innen aus den ökomenischen Partnerschaftsbeziehungn der Welt mitbringen, sondern vor Ihrer Haustür.
Im allerbesten – aber höchst unwahrscheinlichen – Fall werden wir die 2-Grad-Marke erst 2050 knacken. Ihre dreijährigen Kinder oder fünfjährigen Enkel werden dann knapp über 30 sein. Das Alter, in dem sie vielleicht selbst gern Kinder bekommen würden. Auch dieses Szenario bedeutet nicht, dass wir Zeit haben, erst später zu handeln.
Uns ist nicht bewusst, wie sehr wir bereits jetzt mitten in der Klimakrise stecken
Wir können auch die Zerstörung von Wäldern im Amazonas und Sibirien, in Kalifornien, Argentinien und Australien, in Kongo, Kenia und Angola nicht weiter schulterzuckend hinnehmen. Wir sind bereits am Limit dessen, was unser Planet vertragen kann. Ob wir das 2-Grad-Ziel noch halten können, hängt auch davon ab, ob ausreichend Ökosysteme erhalten bleiben. Und jedes Zehntelgrad mehr oder weniger zählt.
Aber warum ist es so dramatisch, wenn wir die Pariser Konvention nicht einhalten? Auch das scheint vielen nicht bewusst zu sein. Die Staaten haben sich verpflichtet, die Erderwärmung deutlich unter 2 Grad zu halten, weil dadurch verheerende und meist unumkehrbare Schäden (Stichwort: Kipppunkte) vermieden werden können. Zu den verführerischen Weisen, die Kipppunkte zu deuten, macht Mai Thy in ihrer unnachahmlichen Weise klare Ansagen - hier.
Heute sind wir bereits bei 1,6 Grad. Das ganze CO2, das wir schon in die Luft gepustet haben, wirkt noch Jahrtausende (hatte ich Jahrtausende deutlich betont?) lang nach. Wir können also nicht bis kurz vor zwei Grad feuern. Wir müssen weit darunter bleiben, bei höchstens 1,7, 1,8 Grad. Und schon das ist extrem gefährlich. Warum?
2020 wussten wir: es ist ein historisches Jahr, vor allem für die Klimapolitik
Wissenschaftler:innen warnen, wir könnten erste Kipppunkte schon erreicht haben. Die tauenden Permafrostböden in Sibirien setzen noch mehr CO2 frei und heizen die Erderwärmung weiter an. Das Wasser der eisfreien Arktis erwärmt sich noch schneller und reflektiert die Sonnenstrahlen, anders als das Eis, nicht mehr zurück. Und wenn ein Kipppunkt erreicht ist, kommen wir noch schneller zum nächsten – und stoßen damit eine Kette an, die wir nicht mehr aufhalten können.
Wir befinden uns am Kipppunkt einer Krise, deren Bedrohung so groß ist, dass es viele von uns nicht erfassen können. 2020 war ein historisches Jahr, auch und vor allem für die Klimapolitik. Das Motto damals: Entweder wir als Gesellschaft begreifen das jetzt und sorgen dafür, dass Politik und Wirtschaft entscheidende Schritte für die nächsten Jahre einleiten, oder es wird zu spät sein. — Passiert ist am Co2-Ausstoß-Verhalten seit 2020 nichts. Hatte ich „nichts” laut und deutlich genug gesagt?
Wir haben keine Zeit mehr. Wir sind jetzt 4 Jahre weiter. Wir müssen jetzt handeln. Nicht in 5 Jahren, sondern heute. Auch wenn das unvorstellbar klingt: Es geht dabei um nichts weniger, als Bedingungen auf unserem Planeten in einem Rahmen zu erhalten, auch vor unserer Haustür, der die kleinstmöglichen Katastrophen ermöglicht und vor dem Supergau, das Aussterben der Menschheit, noch (etwas?) abbremst…
Nicht die Klimaleugner:innen, wir sind selbst sind das Problem
Solange eine kritische Masse an Theolog:innen das alles nicht in der Tiefe verstanden hat und ihre Arbeit nicht komplett (Tag und Nacht!) danach ausrichtet, solange werden auch Gemeindeglieder nicht wach und Politiker:innen nicht entsprechend handeln. Es bedeutet also eine neue Theolog:innenrolle zu definieren und das eigene Selbstverständnis komplett zu transformieren. Vom Ritualdesigner zum Unheils-prophetischen Ritualdesigner. Und es bedeutet mit dem „Evangelium“, das „Hopium“ verbreitet, konsequent aufzuhören. Aber was dann predigen? Was ist denn unser Evangelium in 2025?
Was uns daran hindert, unsere Welt zu ändern, sind also nicht die Klimaleugner:innen. Das Problem sind die Mehrheit, also diejenigen, die erkennen, dass wir ein Problem haben, aber nicht wissen oder verstehen wollen, wie groß es ist. Das Klima ist nicht Sonderthema für einen Themengottesdienst im Jahr. Es geht auch nicht mehr um altbekannte theologische Formeln wie „Bewahrung der Schöpfung“. Dieser Zug ist komplett abgefahren. Wir können nichts mehr retten, geschweige denn bewahren, weil die Klima-Entwicklung unaufhaltsam in Richtung Kipp-Punkte steuert. Wir können aber die „Arche Noahs” des 21. Jahrhunderts bauen.
Die kommende Bundestagswahl 2025 wird unsere wohl wirklich letzte Chance, gesamtgesellschaftlich das Ruder rumzureißen und genug Druck auf alle Parteien aufzubauen, um sie zu Maßnahmen zu bewegen, um unter 1,6 Grad zu bleiben. Der politische Trend heute im Dezember 2024 ist aber deutlich der, dass die „Konservativen“ zu den Klimaleugnern oder Grünen-Hatern geworden sind. Und: Derzeit steuern wir mit diesem politischen Kurs auf drei bis vier Grad Erderwärmung zu. Unser Planet würde damit zum Teil unbewohnbar. Und die Nahrungsversorgung für den Rest katastrophal.
Und in den Pfarrkonventen und Ortsgemeinden geht es (weiter wie schon die letzten 20 Jahre) um Systemerhalt, Trost für den Einzelnen, Umstrukturierungsstress und Pflege von Gottesdiensten im liturgischen Kirchenjahres-Rhythmus als gäbe es keine Apokalypse direkt vor der Tür. Corona hatte den Aufschlag gemacht, aber danach weiter wie bisher? Sicher, die Lippisches Landeskirche hat ehrgeizige Pläne für die Gebäudeentwicklung. Doch seither sind nur wenige weitere Kirchen mit Solarstromanlagen ausgestattet worden. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz (größte private Initiative für Denkmalpflege in Deutschland) veranlasste, dass fortan in den meisten Bundesländern durch Landesgesetze die nachträgliche Anbringung von Photovoltaik auf denkmalgeschützten Gebäuden untersagt wurde.
Wir stehen gerade an einem historischen Punkt. Einem apokalyptischen Punkt (eine Zeitenwende), an dem sich entscheidet, wie die Erde für die nächsten 10.000 Jahre aussehen wird — und das scheint längst nicht allen Theolog:innen bewusst zu sein. Diejenige die doch bis zum „jüngsten Tag“ denken können, haben kein Gefühl für die nächsten 10.000 Jahre, weil die Theologie (un-/heimlich?) darauf vertröstet, dass rechtzeitig der Herr erscheinen wird, um das Chaos, das wir angerichtet haben, zu wenden und die Schöpfung mit einem Zauberspruch auf den Lippen zurückverwandelt in einen Garten Eden — oder wie?
Dieses Gottesbild nannte schon Bonhoeffer „deus ex machina“. Und er warnte davor. Die Theologie scheint insgesamt eher weder auf die Schöpfung ausgerichtet, noch auf die kommende Apokalypse für die Menschheitsfamlie samt aller Kreaturen, die sich eben leider nicht in dem gebotenen Tempo an die Erderwärmung werden anpassen können und definitiv aussterben! Wie schon zehntausendfach in den letzten Jahren geschehen.
Versäumter Klimaschutz lässt sich nicht nachholen
Wir werden das Pariser Klimaziele nicht einhalten. Und selbst wenn wir die Katastrophe nur in eine bestmögliche verwandeln wollen, müssten wir ab 2020 gerechnet unseren CO2-Ausstoß jedes Jahr um mehr als sieben Prozent reduzieren. Die Prozente, die wir in den letzten 5 Jahren versäumt haben oder in den kommenden 5 versäumen werden, lassen sich nicht später irgendwann nachholen. Die Statistiken zeigen, dass der CO2-Ausstoß stetig weiter gestiegen ist. Und? Schweigen? Kein Aufschrei der „Kirche”, wo doch unsere Zunft (durch Römer 8) so sensibel für die Leiden der Schöpfung sei?
Diese Nichtreaktion ist in der gesamten EU so, nicht nur in Deutschland. Das Verhalten der EU-Regierungschefs ist nicht nur global gesehen extrem ungerecht, es gefährdet unsere Zukunft mittelfristig auch sehr viel stärker, als es ihr nützt. Mit den jetzigen Plänen heizen wir bis 2027 die Klimakrise weiter an, statt sie einzudämmen. Und wir leisten uns gleichzeitig mit einer Politik des Zögerns und Zauderns weiterzumachen, gegenüber den Poly-Krisen: Klima, Russland-Überfall, Corona, Demokratiezusammenbruch und Faschismus deren andauernden Folgen sich immer dramatischer zeigen.
Wem wirklich bewusst ist, wie dramatisch die Auswirkungen der Klimakrise, samt all den Krisen im Gefolge sind, nennen wir das Ganze Metakrise; wem wirklich bewusst ist, wie die Metakrise die eigenen Kinder treffen werden und wie klein das Zeitfenster ist, in dem wir noch handeln können — der kann nicht Gottesdienste wie bisher zelebrieren, als würde nichts passiert sein.
- Der kann auch den zu späten Kohleausstieg,
- das irrwitzigen Faseln der „Konservativen“ von Atomkraft oder anderen Wundertechniken und
- vieles andere Politik- und Theologie-Versagen nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen.
- Der kann nicht zusehen wie die Fridays for Future-Bewegung im Grunde nur noch weglaufenden Erfolg hat und Kirche als Ganze sich nicht bewegen kann, sich entschieden in die Protestbewegung einzureihen.
- Der kann 2024 (!) auf der Weltkonferenz nicht wie Lausanne IV in Südkorea „Let the Church Declare and Display Christ Together“ ausrufen und den „Elefanten im Raum“, das Klimathema, nicht zentral auf der Bühne im Programm vorkommen lassen oder nicht einmal im Schlussdokument erwähnen. Sicher, eine Passage spricht von der ersten Mission Gottes an Adam und Eva, die Schöpfung zu bewahren. Darum sei das Klima auch legitimes Thema der Christen. Die absolute Dringlichkeit kommt aber nirgends vor.
- Dringlich ist offensichtlich nur ein anderes Evangelium, das die Re-Mission der Welt als Lösung erträumt. Dieser Traum ist schon 100 Jahre alt und hat nichts geändert. Warum sollte mehr davon besser wirken?
Neo-erwecklich predigen ist angesagt!
Aufwachen, bitte einfach mal aufwachen. Wie wahrscheinlich ist denn nach den letzten Jahrzehnten kirchlichen Abbaus, fehlenden Klimabewusstseins in seiner Dringlichkeit und einseitigem Evangelium von der „Liebe Gottes“ (wo wäre denn die Liebe Gottes spürbar angesichts solcher Metakrisen?).
Wie sähe denn eine apokalyptische Erweckung aus?
Wann wollen wir anfangen, ausführlich und prominent über die Auswirkungen der Klimakrise zu predigen, zur praktischen (politisch-gesellschaftlichen) Umkehr aufzufordern oder zumindest das Nahen der Apokalypse anzukündigen? Wenn sich die Forscher:innen endgültig einig sind, dass die Kipppunkte überschritten sind?
Prediger:innen und Pastor:innen spielen eine entscheidende Rolle als Sprecher der Gemeinde und vor allem als prophetisches Sprachrohr Gottes. Müssen wir nicht jetzt annehmen, dass die Situation reif ist dafür, unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem Wirken des apokalyptischen Gottes aufzugeben, um hübsch weiter dem Götzen des gnädigen Gottes zu huldigen?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Es gibt viele exzellente Berichte über die Klimakrise und Kolleg:innen, die teils seit Jahrzehnten das Thema „Bewahrung der Schöpfung“ auf ihrer Agenda hatten und vor den Gefahren warnen. Alle die wollen, könnten wissen, wie dramatisch die Lage ist. Wir machen uns nur nicht bewusst, was das mit jeden Teil in unserem Leben zu tun hat. Mit der
- Familiengründung,
- der Kindererziehung,
- der Seelsorge,
- den Burnouts,
- den Systemüberforderungen in Kirche, Gesundheitsweisen und Politik…
- mit allem eben.
Das ist die Metakrise, die eine entschiedene theologische Reaktion erfordert. Die Klimakrise ist weit mehr als ein Fall für Fachtheolog:innen. Sie betrifft alle Bereiche unseres Lebens und damit auch der Kirche und die Themen der einfachsten Dorfgemeinde und die Existenz jede:r Gläubige:n.
Die Klimakrise betrifft genauso den Alltag, wie und wohin wir reisen, Mode und Essen. Nicht als Nachhaltigkeitstrend, sondern weil unser weiteres Leben auf diesem Planeten davon abhängt, wie viele Klimagase wir noch in die Luft pusten.
Jede:r Religionslehrer:in, jede:r Pastor:in sollte auswendig herunterbeten können, welche extremen Folgen die IPCC-Berichte für 1,5 und 2, 3, 4 Grad Erderwärmung voraussagen. 2025 sollte niemand mehr politische oder wirtschaftliche Entscheidungen komplett aus dem Gemeindeleben ausblenden oder nur ausschnitthaft kommentieren, ohne ihre Auswirkungen auf das Klima mitzudenken.
Die Einhaltung des 2-Grad-Ziels zu kontrollieren ist kein Aktivismus
Viele Theolog:innen betonen zu Recht den Unterschied von Aktivismus und Verkündigung. Aber die Einhaltung des 1,8-Grad / oder eher 2-Grad-Ziels (1,5 Grad haben wir 2023 gerissen…) als Kirche Gottes im Blick zu behalten, ist kein Aktivismus. Es ist wissenschaftlich, menschlich und spirituell geboten. Wir Theolog:innen können das Versagen der Politik nicht einfach nur als Hintergrundrauschen ignorieren. Politische und wirtschaftliche Entscheidungen, die zur Nicht-Einhaltung des 1,5 (aka 1,8 | 2)-Grad-Ziels führen, sind nicht bloß ein Politikversagen, sondern Teil der selbstzerstörerischen strukturellen Sünde, in die wir selbstverständlich selbst verwickelt sind und die wir deshalb so fleißig verdrängen. Und an der wir zugrunde gehen werden.
Die Klimakrise ist akut bedrohliche Realität. Diese Realität immer wieder möglichst akkurat abzubilden und Politik und Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, ist Aufgabe des prophetischen Dienstes der Verkündigung und unsere zentrale Funktion innerhalb der demokratischen Meinungsbildung — wenn wir denn glauben, wir hätten eine Botschaft für das ganze Volk (alter Traum „Volkskirche“ halt). Gut, von mir aus, wir tragen Verantwortung, gegenüber der Gesellschaft, aber auch gegenüber unseren eigenen Kindern. Auch wenn die noch gar nicht geboren sind.
Die Coronakrise hat gezeigt, was für einen Unterschied ein schnelles und entschlossenes Handeln macht. Und was passiert, wenn man sich den wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber verschließt und wie schnell eine Krise eskalieren kann, wenn man sie zu lange nicht ernst nimmt.
Und anders als Covid-19 kann die Klimakrise nicht nur jede:n treffen, sie wird jede:n treffen. Vor ihr kann man sich nicht schützen, indem man zuhause auf dem Sofa sitzen bleibt und sich sozial und politisch isoliert. Oder Gottesdienst feiert wie immer. Oder das „ewige Evangelium“ nicht kontextsensibel anpasst — wenigstens zu einem „apokalyptisch-heutigen“ Evangelium... Die Apokalypse / Zeitenwende ist jetzt. Das neue Evangelium hätte etwas damit zu tun, dass die Gemeinde Gottes als Kollaps-Gemeinschaft für die kommenden Zusammenbrüche fit gemacht wird, in Kollapscamps für den Ernstfall weitergebildet und ein solidarischer Ort für Müde, Klimageschredderte, Hoffnungslose… Darin hat die Kirche doch seit Noahs Arche Erfahrung und Geschichten und Modelle.
Tadzio Müller, ein erfahrerner Klimaaktivist, schwenkt um zu einem Aktivismus 2.0 | zur Klimabewegung 2.0 oder besser zur emergenten Kollapsbewegung, einem „neuen Zyklus der Kämpfe, des nächsten (evtl. und wahrscheinlich letzten) langen Zyklen linker Kämpfe. Arbeitstitel:„Gerechtigkeit in der Katastrophe.” Sollte hier nicht auch die Kirche in ihrem ganz normalen Alltag mit höchster Aufmerksamkeit und ihrer Gemeinschafts-Expertise zu finden sein?
Die Kollaps-Gemeinde, die inklusive Arche 2.0 ist für mich der notwendig neue Fokus ab 2025. Ich bin gespannt wie die „letzte Generation” nach ihrem Namenswechsel und ihrer Häutung auf(er)steht. Und ich befürchte, dass die Kirche nicht ohne Wenn und Aber dabei ist, weil sie den Schuss immer noch nicht gehört hat. Überrasch mich, Kirche! Bitte überrasche mich.
Dieser Text sollte als „Tagebuch der Kirche in der Apokalypse” weiter geschrieben werden...