von Andrew Perriman am Di, 07.11. 2023
Perriman hat an Craig Keeners Spirit Hermeneutics: Reading Scripture in Light of Pentecost (2016) gearbeitet, um einige Lehrmaterialien zur Pfingsthermeneutik vorzubereiten. Er schätzt diese allgemeinverständliche Lektüre, könnte aber etwas theologisch-systematischeres vertragen. Aber ja, es ist eine gute Einführung, und das Thema lädt ja eh zu etwas persönlicher Leidenschaft ein. Es verkörpert ein (pflingstlerisches) Modell theologischer Interpretation der Heiligen Schrift mit einem starken Schwerpunkt auf der erfahrungsmäßigen Dimension, die die Leser:innen in das Werk der Interpretation einbringen.
Was ist eine Pfingst-Lesart?
Ein Schlüsselelement einer Pfingsthermeneutik, argumentiert Keener, ist die Eschatologie1. Ich würde dem voll zustimmen – in der Tat würde ich sagen, dass der Schlüssel zu jeder guten neutestamentlichen Hermeneutik die Eschatologie ist. Aber ich habe zu meiner Überraschung festgestellt, dass ich in mancher Hinsicht der Eschatologie der Pfingstbewegung alter Schule näher stehe als Keeners eher gemäßigter Darstellung des Stellenwerts des „Geistes der Weissagung“ im Leben der Kirche.
Craig Keeners Pfingst-Eschatologie
Wir leben in den „letzten Tagen“, sagt Keener, wenn der Geist auf diejenigen ausgegossen wurde, die den Namen Jesu Christi anrufen, und wir lernen aus Petrus Pfingsverkündigung, dass „Gott einen neuen messianischen und damit eschatologischen Rahmen für die Konzeptualisierung der Schrift lehrt“.
Das ist Keener, der diesen Abschnitt in einer Pfingsthermeneutik lokalisiert. Ich bin mir nicht sicher, für wie „neu“ Petrus seine Verwendung von Joels Passage empfand, aber ja, Petrus arbeitet sicherlich mit einem eschatologischen Rahmen.
Das restaurative oder erweckliche Paradigma der klassischen Pfingstbewegung ist biblisch gesehen jedoch fehlerhaft. Die historischen Erfahrungen sind immer uneinheitlich, aber der Geist wurde gegeben, um die Mission der Kirche im Laufe der Geschichte zu stärken, nicht sporadisch in Momenten der Erweckung. Eine solche Position ist natürlich eher reformatorisch evangelisch: „Spiele den Enthusiasmus runter, blende die Disruptionen aus!“
Die Kirche lebt im „schon jetzt/noch nicht“. Jesus kündigte nicht nur das kommende Königreich an; seine Zeichenhandlungen waren ein Vorgeschmack auf die Fülle dieses Königreichs. Paulus sagt, dass Christus „uns aus diesem gegenwärtigen bösen Zeitalter errettet hat“ (Gal. 1, 4). Unser Geist sollte nicht den Standards des gegenwärtigen Zeitalters entsprechen, sondern den Standards des kommenden Zeitalters (Rom. 12, 2). „Dieser Ansatz zeigt Paulus‘ Verständnis über die eschatologische Ära, die sich auf die Gegenwart auswirkt, und verlangt natürlich, dass wir die Schrift auch aus dieser eschatologischen Perspektive lesen“.
Petrus ändert das Zitat von Joel und ändert „nach diesen Dingen“ in „in den letzten Tagen“:
Und in den letzten Tagen wird es sein, erklärt Gott, dass ich meinen Geist auf alles Fleisch ausgießen werde, und eure Söhne und deine Töchter werden prophezeien, und eure jungen Männer werden Visionen sehen, und eure alten Männer werden träumen; sogar auf meine männlichen Diener und weiblichen Diener in jenen Tagen werde ich meinen Geist ausgießen, und sie werden prophezeien. (Apostelgeschichte 2:17-18; vgl. Joel 3:1 LXX)
Der Wiederherstellung wird eine „Abfall unter den Ungläubigen“ und eine Zeit des großen Leidens vorausgehen (Jer. 23, 20; 30, 24; Ezek. 38, 16; Dan. 10, 14), gipfelt in einem letzten „Tag des Herrn“ (Apostelgeschichte 2, 20). Im Wesentlichen bedeutet der Ausdruck „die letzten Tage“ also in heutiger Fachsprache „die eschatologische2 Zeit“. Die „eschatologische Trübsal“ stellt3 „die gesamte gegenwärtige Ära dar, eine Zeit der Geburtsschmerzen, die der neuen Welt vorausgeht“.
Keener behauptet, dass es keinen Grund gibt zu glauben, Lukas erwarte, dass die prophetische Ermächtigung des Geistes vor der Rückkehr des Herrn enden würde:
Lukas würde kaum betonen, dass diese Ära an Pfingsten eingeweiht wurde, und dann erwarten, dass wir ohne klare Beweise schließen, dass die Ära vor ihrer Vollendung bei der Rückkehr Christi auslaufen würde.
Lassen Sie uns zusammenfassen. Nach Keeners Darstellung beginnen die „letzten Tage“ mit der Ausgießung des Geistes der Weissagung für die Mission der Kirche und werden bis zu einem letzten Höhepunkt des Abfalls, der Trübsal, der Wiederkunft Christi und vermutlich der Wiederherstellung Israels andauern. Es sind also „letzte Tage“, die sich wie ein Gummiband bis zum Ende der Geschichte, wie wir sie kennen, ausdehnen … Aber kein Gummiband kann auf unbestimmte Zeit gedehnt werden, und ich würde dagegenhalten, dass wir loslassen und zulassen müssen, dass das Gummiband seine ursprüngliche historische Reichweite – wenn auch eher heftig mit einem Knall – wieder einnimmt.
Die „letzten Tage“ – biblisch genau
Der Ausdruck „letzte Tage“ findet sich ein paar Mal im Neuen Testament. In Hebräern 1, 1-2 werden die „letzten Tage“, in denen Gott von seinem Sohn zu Israel gesprochen hat, mit den vielen Phasen Israels in der Vergangenheit verglichen, als er durch die Propheten sprach. Aber es gibt in dem Brief einen so deutlichen Hinweis auf das kommende Gericht über Israel (z. B. Hebr 2, 2-3; 10,12-13, 36-39; 12, 26-29), dass wir den Ausdruck eschatologisch als Hinweis auf die Zeit verstehen können, die zum Untergang der Generation führt, die sich Jesus damals widersetzt hat.
Paulus oder ein Mitarbeiter erklärt, dass „in den letzten Tagen“ Zeiten der Schwierigkeiten (Trübsale) usw. kommen werden und dass das apostolische Team nach seinem Tod damit fertig werden muss (2 Tim 3, 1; 4, 1-8; vgl. 2 Petr 3, 3).
Jakobus warnt die ungerechten Reichen, dass ihr Reichtum ihnen „in den letzten Tagen“ nichts nützen wird; sie werden bald vor ihren Richter treten (Jak. 5,1-3. 7-9).
Im Alten Testament ist von den „letzten Tagen“ die Rede, in denen Israel wiederhergestellt und Jerusalem zu einem lebendigen religiösen und politischen Zentrum für die umliegenden Völker werden soll (z. B. Jes 2, 2; Hos 3, 5; Mich 4, 1).
In den Schriftrollen vom Toten Meer und in den Pseudepigraphen bezieht sich der Ausdruck, wie ich glaube, ziemlich durchgängig auf zeitgenössische Perioden religiöser Krisen, mit denen die Sektierer und andere Gruppen konfrontiert waren. Zum Beispiel beginnt die Gemeinschaftsregel:
Dies ist die Regel für die ganze Gemeinde Israels in der Endzeit, wenn sie mobilisiert wird, um sich der Jahwe anzuschließen. Sie müssen nach dem Gesetz der Söhne Zadoks, der Priester, und der Männer ihres Bundes leben, die aufgehört haben, auf dem Weg des Volkes zu wandeln. Das sind die Männer Seiner Partei, die während der bösen Zeiten Seinen Bund hielten und so für das Land büßten. (1QSa 1, 1-3)
- Im Alten Testament erwarten wir also eine Lösung für Israels innere Unordnung und geopolitische Schwäche, die den Konflikten mit den mesopotamischen Reichen ein Ende setzen wird.
- Zur Zeit des Neuen Testaments hat sich der Schwerpunkt auf Griechenland und Rom verlagert, und insbesondere in Qumran haben wir ein verstärktes Bewusstsein für die „letzten Tage“ als eine Zeit der inneren Unordnung und geopolitischen Schwäche, die mit der spektakulären Niederlage Roms enden wird.
Meine Frage lautet also: Warum hören wir die Botschaft des Petrus in der Apostelgeschichte 2 nicht in ähnlicher Weise, als hätte sie denselben historischen Bezug? Die „letzten Tage“ sind mit großer Wahrscheinlichkeit hier ebenfalls der Verweis auf dieselbe unmittelbare Erfahrung von innerer Unordnung und geopolitischer Schwäche, nur dass eine kleine prophetische Gemeinschaft in Israel jetzt die paradoxen Mittel versteht, mit denen die Krise gelöst werden wird.
In meinem kürzlich erschienenen CBQ-Artikel verweise ich auf die Aussage des Paulus, dass der Herr Jesus Christus sich für die Sünden Israels hingegeben hat, „um uns von dem gegenwärtigen bösen Zeitalter zu erlösen“ (Gal. 1, 4).
Das Kommen des Menschensohnes
Ich würde deshalb so argumentieren, dass im Neuen Testament die Vision des Menschensohns, der auf den Wolken des Himmels kommt, ganz natürlich die Lösung einer historischen (apokalyptischen) Krise im Blick hat.
In Daniel 7, 13-27 steht die Gestalt des Menschensohns – im Gegensatz zu den wilden Tierreichen – für das gerechte Volk der Heiligen des Allerhöchsten, das im frühen zweiten Jahrhundert v. Chr. von dem arroganten und blasphemischen griechischen König Antiochus Epiphanes verfolgt wurde. Das griechische Reich wird verurteilt und zerstört, und das Volk der Heiligen des Allerhöchsten erhält Recht und wird zur neuen „kaiserlichen“ Macht, der die Völker dienen.
Jesus und seine Jünger machten sich dieses prophetische Bild zu eigen, um zu erklären, was im ersten Jahrhundert (also in ihrer Zeit!) geschah. Es wurde zuerst auf Jesus angewandt, aber er selbst repräsentierte, verkörperte und identifizierte sich mit denen, die nach ihm leiden und gerechtfertigt werden würden.
Der springende Punkt ist jedoch, dass die Vision der „jüngsten Tage“ im Neuen Testament, wie auch bei Daniel, immer das Ende der nahenden historischen Krise und den Beginn einer neuen imperialen Ordnung markiert.
Ich denke also, dass wir mit Fug und Recht sagen können, dass die „letzten Tage“ die Periode der eschatologischen Zerrüttung sind, die das Volk Gottes unter den europäischen Mächten erlebte und die in der spektakulären Bekehrung Roms zur Anbetung des lebendigen Gottes Israels und zur Herrschaft seines Sohnes gipfelte, was die öffentliche Rechtfertigung derjenigen war, die während der gesamten Zeit treu ein vom Geist ermächtigtes Zeugnis für Jesus abgelegt hatten.
Der Geist der Prophezeiung wird ausgegossen, wenn es etwas zu sagen gibt
Wenn der Umfang der „letzten Tage“ also historisch sehr begrenzt ist, gibt es einen guten Grund, Keeners Behauptung stark in Frage zu stellen, dass das, was Lukas hier beschreibt, grundsätzlich für die ganze Kirche jederzeit relevant geblieben ist.
Was die frühe Kirche hier kollektiv empfing, war die Gabe, das künftige Gericht über das rebellische Israel und im weiteren Verlauf die Herrschaft Jesu und der Märtyrer über eine bis dahin von Rom beherrschte Region vorauszusehen und zu prophezeien. Sie waren quasi die „letzte Generation“ vor dem nahenden Ende.
Der Geist wurde zum Zweck einer bestimmten historischen Verkündigung oder eines Evangeliums ausgegossen – wie jedes andere (politische!) „Evangelium4“ in der antiken Welt. Wenn dieses Ergebnis – oder diese Ergebnisse – erreicht waren, wurden die Vision und der Mut zur Verkündigung nicht mehr benötigt, und die Kirche lebte sich ab danach in die Routine des priesterlichen Dienstes im Römischen Reich und in den nachfolgenden politischen Systemen ein.
In der Vergangenheit sandte JHWH einen einsamen Propheten, um Israel zu verkünden, was geschehen würde – Elia, Jeremia, Johannes der Täufer, Jesus. Nach dem Tod des Sohnes, der zu den widerspenstigen Pächtern des Weinbergs gesandt worden war, ernannte und bevollmächtigte er eine ganze bunte Gemeinschaft, Junge und Alte, Männer und Frauen, sogar die Sklaven unter ihnen, um das Gleiche zu tun, um die gleiche Art von begrenzter prophetischer Aufgabe zu erfüllen.
Das bedeutet nicht, dass die Kirche den Geist nicht auch zu anderen Zeiten gebraucht hätte. Nur eben das war nicht identisch mit der Gabe zur „Pfingstzeit“, mit ihrer Betonung des eschatologischen Zeugnisses (im Widerstand! Oder Widerspruch zum Mainstream). Die Kirche lebt immer noch getrieben vom Geist des neuen Bundes zwischen Gott und seinem Volk, aber gemäß des „Geistes von Pfingsten“, der wird aus Joels „Tag des Zorns“ inspiriert und stammt nicht von Hesekiels „Wiederaufbau-Predigt“ (vgl. 36 5.26-27; 37,14; 39,29). Wenn das so ist, dann frage ich mich natürlich auch, ob wir heute nicht wieder eine Ausgießung des Pfingst-Geistes an der Basis brauchen, um deutlicher zu sehen und zu artikulieren, wo der Gott der Geschichte ist und was er in diesem Augenblick tut. Es wird sicher nicht wie eine klassische pfingstliche Erweckung aussehen, aber es wird auch nicht „business as usual“ sein.
Glossolali neu gedeutet
https://www.postost.net/2020/07/speaking-tongues-glossolalia-narrative-historical-perspective
„Sprechen in Zungen“ (glossolalia) in narrativer-historischer Perspektive
„Nein, beobachte mich. Heben Sie beide Hände, aber nicht weiter als das“.
Ich habe in einem vorherigen Beitrag darauf hingewiesen, dass Paulus‘ Lehre über die Ehe in 1. Korinther keine eigenständige, zeitlose ethische Darstellung ist, sondern eine etwas provisorische Reihe von Anweisungen, um der Kirche zu helfen, einen schwierigen eschatologischen Übergang zu bewältigen. Ich erwähnte als Teil meines Katalogs der eschatologischen Marker in dem Brief, dass das Sprechen in Zungen eine „Warnung an ungläubige Juden war, dass Jerusalem vor einem katastrophalen Urteil steht“. Ich dachte, es könnte sich lohnen, ein bisschen mehr darüber zu sagen. Voila!
Die moderne Diskussion über das „Sprechen in Zungen“ oder „Glossolalia“ hat sich tendenziell auf Fragen konzentriert, wie z.B. ob das Phänomen psychologisch oder übernatürlich erklärt werden soll, ob die „Zungen“ (Sprachen) irdisch oder himmlisch sind oder ob es für die christliche Erfahrung als abgeschlossen oder aktuell möglich angesehen werden muss.
Das sind alles berechtigte Fragen, aber wenn man die Passagen in der Apostelgeschichte und im 1. Korintherbrief, in denen das „Reden in Zungen“ erwähnt wird, aufmerksam liest, wird man feststellen, dass diese Fragen am Thema vorbeigehen. Warum bin ich immer der Überbringer von schlechten Nachrichten?
Wir hören sie in unseren eigenen Sprachen die mächtigen Werke Gottes erzählen
Die moderne Kirche liest typischerweise Apostelgeschichte 2 aus der Perspektive der modernen Kirche und geht davon aus, dass die Gabe, in Zungen zu sprechen, gegeben wurde um der Mission in den Nationen und der Entstehung einer multinationalen Kirche willen.
In einem Artikel in der Biblical Archaeology Review stellt Ben Witherington beispielsweise die Vermehrung von Sprachen nach der Babel-Episode (Gen. 11, 9) fest und stellt fest, dass, während „Pfingsten die Wirkung von Gottes Sprachverwirrung in Babel zwar nicht umkehrt, es aber das Problem überwindet um der Rettung der Völker willen“.
Nichts deutet jedoch nach meiner Wahrnehmung darauf hin, dass Lukas das Ereignis als eine Umkehrung der Sprachverwirrung in Babel verstand. Es scheint wahrscheinlicher, dass Lukas auf eine konventionelle jüdische Liste von Ortschaften zurückgegriffen hat. Der Schwerpunkt liegt nicht auf der Vielfalt der Sprachen, sondern auf den Menschengruppen und den Orten, von denen sie gekommen sind, um am großen Fest in Jerusalem teilzunehmen. Die Liste stellt den Umfang der Diaspora dar, nicht der Menschheit.
Craig Keener argumentiert auch, dass das Phänomen die nachfolgende Mission der Kirche, wie in Apostelgeschichte 1, 8 beschrieben, vorwegnimmt – von Jerusalem über Judäa und Samaria bis zum Ende der Erde:
Lukas betont in Bezug auf den Geist besonders die Befähigung zum kulturübergreifenden prophetischen Zeugnis (Apg 1, 8), und nichts könnte die Befähigung zur Überwindung solcher Grenzen besser symbolisieren als die Fähigkeit, durch die Inspiration des Geistes in Sprachen zu sprechen, die man nicht gelernt hat.6
Aber auch dies geht aus dem Text nicht hervor. Lukas schildert genau das Gegenteil: das Zusammentreffen von Juden aus Mesopotamien, Nordafrika, Kleinasien und Europa in Jerusalem, um zu hören, wie die Jünger Jesu „in unseren eigenen Sprachen die gewaltigen Dinge (megaleia) Gottes“ erzählen (Apg 2, 11). Weder das Ereignis noch das Phänomen werden an anderer Stelle im Neuen Testament im Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums an die Völker erwähnt. Wie wir später sehen werden, wird die Zungenrede, wenn überhaupt, zu einem Hindernis für die Mission der Kirche in der heidnischen Welt.
Wir sollten den Vorfall von Lukas interpretieren lassen.
Als die Menge nach der Bedeutung des Gesehenen und Gehörten fragt, verweist Petrus sie auf die Prophezeiung Joels über die Ausgießung des Geistes auf „alles Fleisch“ (d. h. auf das gesamte jüdische Fleisch) und nicht nur auf einige wenige Auserwählte, so dass sie alle weissagen, Visionen sehen und Träume träumen würden (Apg 2, 16-21; Joel 2, 28-32). Das ist eine alte biblische Hoffnung, die bis zu Mose zurückreicht: „Wenn doch das ganze Volk des HERRN Propheten wäre, dass der HERR seinen Geist auf sie legen würde!“ (Num. 11, 29).
Gerade weil Israel nicht auf das Wort des Herrn gehört und Buße getan hat, wird Gott zu ihnen in einer Sprache sprechen, die sie nicht verstehen. Das Reden in Zungen ist ein Zeichen ihres Unverständnisses.
Was sie im Geist prophezeien und sich ausmalen werden, ist ein „großer und offenkundiger“ (megalēn kai epiphanē) Tag des Herrn gegen sein Volk, an dem sich der Himmel verfinstern wird, was zur Vernichtung des derzeitigen „verkehrten Geschlechts“ der Juden führen wird und vor dem die Juden nur gerettet werden, wenn sie den Namen des Herrn Jesus anrufen (Apg 2, 21. 38-40).
Mit anderen Worten: Nicht nur Jesus ist jetzt vom Geist Gottes bevollmächtigt und befähigt worden, Israel vor dem kommenden Gericht zu warnen (vgl. Lk 21, 25). Eine ganze Gemeinschaft – wenn auch eine symbolische Gemeinschaft von 120 Personen – innerhalb Israels, Männer und Frauen, Junge und Alte, Herren und Knechte, wurde bevollmächtigt und qualifiziert, in diesen turbulenten „letzten Tagen“ des Judentums des Zweiten Tempels prophetisch Zeugnis abzulegen.
Die „mächtigen Taten Gottes“ beziehen sich daher meiner Meinung nach nicht auf große göttliche Befreiungstaten in der Vergangenheit oder gar auf die Auferstehung von Jesus. Es ist ein Verweis auf einen zukünftigen großen und schockierenden Tag, an dem JHWH sein Volk richten wird. Kein Wunder, dass die „Männer Israels“, die aus den vier Ecken der Diaspora zusammengekommen waren, „erstaunt und verwirrt“ waren über das, was sie hörten (Apostelgeschichte 2, 12).
Die Gabe, in anderen Sprachen zu sprechen, bedeutet die Ausweitung der Prophezeiung Joels über das geografische Israel hinaus auf alle Juden, die Jerusalem als das Zentrum ihres religiösen Lebens und ihrer religiösen Praxis betrachteten. Die Stadt und ihr spektakulärer Tempel würden bald zerstört werden.
Bemerkenswerterweise wird dieses Zeugnis noch einmal ausgeweitet, als der römische HauptmannKornelius und seine Familie zu dem Glauben kommen, dass der Gott Israels Jesus zum Richter und Herrn über sein Volk gemacht hat (Apostelgeschichte 10, 42). Auch sie empfangen die Gabe des Heiligen Geistes und „reden in Zungen und preisen Gott“ (Apg 10, 45-46). Auch diese Heiden sind nun in die prophetische Gemeinschaft des eschatologischen Zeugnisses gegen Israel aufgenommen worden.
Schließlich gehe ich davon aus, dass die Jünger in Ephesus, die nur die Taufe Johannes des Täufers kannten, Juden(!) waren (es waren zwölf!), die sich zwar mit einer (johannäischen) Buß- und Reformbewegung identifizieren wollten, aber die Bedeutung Jesu nicht begriffen hatten und eben noch nicht Teil der eschatologischen Gemeinschaft des Zeugnisses und der Erneuerung geworden waren (Apg 19, 1-7). So legte Paulus ihnen die Hände auf, der (spezifische pfingstliche!) Heilige Geist kam auf sie herab, und sie „begannen in Zungen zu reden und zu weissagen“ über das, was JHWH in Jerusalem tun wollte.
“Zungen“ sind ein Zeichen für Ungläubige
Wenn Paulus die Frage des Sprechens in Zungen anspricht, ist es im Kontext einer ziemlich umfangreichen Lehre über die Gaben des Geistes, die einer überwiegend heidnischen Gemeinschaft gegeben werden (1 Kor. 12-14). Ein Hauptanliegen ist es daher, zwischen heidnischer „spiritueller“ Erfahrung und authentischen Ausdrücken des Heiligen Geistes zu unterscheiden:
… als ihr Heiden wart, zog es euch mit Macht zu den stummen Götzen. Darum tue ich euch kund, dass niemand Jesus verflucht, der durch den Geist Gottes redet; und niemand kann Jesus den Herrn nennen außer durch den Heiligen Geist. (1 Kor. 12, 2–3)
Offensichtlich erwies sich das Management der Gabe, in Sprachen zu sprechen, als problematisch, vermutlich weil die charismatische Erfahrung zu einem Selbstzweck wurde. Paulus legt also großen Wert auf Verständlichkeit und Erbauung, da das Sprechen in Zungen unter Gläubigen geschah (1 Kor. 14, 6-19).
Aber er persönlich scheint zu denken, dass die Gemeinschaft der Gläubigen, die sich zur Anbetung und Erbauung versammelten, nicht der richtige Kontext war, um in Zungen zu sprechen:
So sind Zungen ein Zeichen nicht für Gläubige, sondern für Ungläubige, während die Prophezeiung ein Zeichen nicht für Ungläubige, sondern für Gläubige ist. Wenn also die ganze Kirche zusammenkommt und alle in Zungen sprechen und Außenstehende oder Ungläubige eintreten, werden sie dann nicht sagen, dass Sie verrückt sind? Aber wenn alle Prophezeiungen und ein Ungläubiger oder Außenseiter eintreten, wird er von allen verurteilt, er wird von allen zur Rechenschaft gerufen, die Geheimnisse seines Herzens werden offenbart, und so, wenn er auf sein Gesicht fällt, wird er Gott anbeten und erklären, dass Gott wirklich unter euch ist. (1 Kor. 14, 22–25)
Der Schlüssel zum Verständnis dieser seltsamen Unterscheidung, denke ich, liegt in dem Zitat von Jesaja, das ihr vorausgeht:
Durch Menschen mit seltsamen Zungen und durch die Lippen von Ausländern werde ich zu diesem Volk sprechen, und selbst dann werden sie mir nicht zuhören, sagt der Herr. (1. Kor. 14, 21)
Das erinnert uns daran, dass Paulus‘ apostolisches Ziel immer noch das Schicksal Israels fest im Blick hat. Er schreibt zwar an Bekehrte aus dem Heidentum, aber das, wozu sie sich bekehrt haben, ist die Aufgabe des eschatologischen Zeugnisses, und dieses ist weiterhin ein Zeugnis für das kommende Gericht JHWHs über sein Volk.
Der Abschnitt aus Jesaja ist eine Prophezeiung gegen Ephraim und Jerusalem (Jes. 28, 1-13). Ephraim (d. h. Israel) ist trunken geworden; die Priester und Propheten „taumeln vom starken Trunk, sie taumeln im Sehen, sie straucheln beim Richten“ (Jes 28,7). Mit anderen Worten: Das Volk hat die Fähigkeit verloren, Gott klar zu hören. Deshalb wird Gott zu seinem Volk „durch Leute mit fremden Lippen und in fremder Sprache“ sprechen (Jes 28, 11). Gemeint sind wahrscheinlich die Assyrer, durch deren Hand Gott sein Volk bestrafen wird, so dass es „zerbrochen und gefangen und genommen“ wird (Jes 28, 13).
In der Septuaginta heißt es hier „eine andere Sprache“ (glōssēs heteras), was sich in der Aussage des Lukas wiederfindet: „Sie fingen an, in anderen Sprachen (heterais glōssais) zu reden“ (Apg 2, 4).
Paulus versteht also wie Lukas die Zungenrede als einen wesentlichen Bestandteil des prophetischen Zeugnisses gegen Israel. Richard Pervo schlägt sogar vor, dass sich der Bericht in der Apostelgeschichte „wie eine erzählerische Darstellung der in 1. Kor. 14, 23 dargelegten hypothetischen Situation“ liest – Außenstehende denken, dass die schwatzende Gemeinschaft lediglich betrunken und unordentlich ist.7
In jedem Fall wird Gott gerade deshalb zu ihnen in einer Sprache sprechen, die sie nicht verstehen, weil Israel nicht auf das Wort des Herrn gehört und Buße getan hat. Das Reden in Zungen ist ein Zeichen ihres Unverständnisses. Jesus gab die gleiche Erklärung dafür, dass er zu Israel in Gleichnissen sprach, die sie nicht verstehen konnten. Seine Gleichnisse konnten zwar von Eingeweihten verstanden werden, aber für die ungläubigen Juden, die immer mehr zu Außenseitern wurden, waren sie ein Zeichen, dass das Land bald verwüstet sein würde (Mt 13, 10-15; Mk 4, 10-12; Lk 8, 9-10; vgl. Jes 6, 8-12).
Ich würde daher annehmen, dass die „Ungläubigen“ in 1. Korinther 14, 22-25 ungläubige Juden sind – Vertreter „dieses Volkes“, zu dem der Gott Israels durch „Zungen“ spricht, die sie nicht verstehen.
Wenn die geisterfüllte Kirche in verständlicher Weise darüber prophezeit, was Gott tut, kann ein ungläubiger Jude überführt werden, auf sein Angesicht fallen, Gott anbeten und die Echtheit des prophetischen Zeugnisses der Kirche bezeugen (1. Korinther 14, 24-25).
Das Reden in Zungen hingegen sollte für ungläubige Juden ein unverständliches Zeichen dafür sein, dass sie „Gefäße des Zorns, bereitet zum Verderben“ geworden sind (vgl. Röm 9, 22).
Ein „kontinuierlicher Cessationismus“?
Was bedeutet das nun für uns heute?
Die Kirche bleibt eine Gemeinschaft des Geistes und nicht des Gesetzes, da das Gesetz in die Herzen des neuen Bundesvolkes Gottes geschrieben wurde (vgl. Jer 31, 33).
Das prophetische Zeugnis gegen das Israel des ersten Jahrhunderts ist jedoch offensichtlich verjährt. Das Phänomen der Glossolalie, das die frühen Kirchen erlebten, ob es sich nun um Menschen- oder Engelszungen handelte, diente in diesem Kontext einem besonderen und paradoxen Zweck. Unabhängig davon, ob der Inhalt solcher Reden verstanden werden konnte oder nicht, war es ein konkretes Zeichen für die Juden, dass sie auf Zeit lebten, dass JHWHs Geduld am Ende war (vgl. Römer 9, 22).
In 1. Korinther 14 sehen wir jedoch wahrscheinlich einen Hinweis darauf, dass das Phänomen im heidnischen Kontext schon damals eine andere Funktion als eine Form der ekstatischen Anbetung zu erhalten begann, die zweifellos mit bestimmten heidnischen spirituellen Praktiken vergleichbar war. Paulus war als jüdischer Apostel, dem das Schicksal seines Volkes sehr am Herzen lag, nicht glücklich über diese Entwicklung, aber um der eschatologischen Bedeutung der Zungenrede willen bemüht er sich, sie zu verwalten, anstatt sie zu verbieten.
Haben die Cessationisten 8 also recht? Was die neutestamentliche Erzählung angeht, haben sie wahrscheinlich recht. Aber die neutestamentliche Erzählung geht nicht sehr weit. Ich wüsste nicht, warum die Wiederbelebung des Zungenredens in der Neuzeit, in der Pfingstbewegung und in der charismatischen Bewegung, nicht als ein erneutes Sprechen Gottes zu einem Volk verstanden werden sollte, das schwerhörig geworden ist, dem die Überalterung droht und das so viele von uns verwirrt und ratlos, selbstgefällig zynisch, im Urteilsvermögen stolpernd oder gefährlich selbstgefällig zurücklässt. Wer weiß das schon?
- Eschatologie (Aussprache ɛsça-, aus altgriechisch τὰ ἔσχατα ta és-chata ‚die äußersten Dinge‘, ‚die letzten Dinge‘ und λόγος lógos ‚Lehre‘) ist ein theologischer Begriff, der das religiöse Konzept des Endzeitlichen, insbesondere die prophetische Lehre von den Hoffnungen auf Vollendung des Einzelnen (individuelle Eschatologie) und der gesamten Schöpfung (universale Eschatologie) beschreibt.
Der ursprünglich christliche Begriff wurde im lutherischen Protestantismus geprägt. ↩ - „Eschaton“ das Kommende, Zukünftige, das Ende ↩
- In der üblichen christlichen Auslegung ↩
- Der Begriff Evangelium stammt aus der griechischen Sprache (εὐαγγέλιον eu-angélion) und bedeutet „Lohn für das Überbringen einer guten Nachricht“ bzw. kurz „gute Nachricht“ oder konkreter „Siegesbotschaft“.
Bereits bei Homer begegnet εὐαγγέλιον als Fachbegriff für eine gute Nachricht.34 In der römischen Kaiserzeit hießen Botschaften, die vom Kaiser ausgingen oder sich auf ihn bezogen, Evangelium. Meist wurde jedoch der Plural Euangélia für die Jahresfeste wie Geburtstag und Thronbesteigung des jeweiligen Herrschers verwendet.5
Die griechischsprachige jüdische Tradition verwendet wie das Alte Testament in erster Linie das Verb ευαγγελίζομαι bezogen auf die besonders vom Propheten Deuterojesaja (Jes 40,9 ELB) angekündigte messianische Heilsbotschaft. https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelium_(Glaube)#Etymologie_und_Herkunft_des_Begriffs ↩ - 36 Dann werden die Völker, die um dich herum übriggeblieben sind, erfahren, dass ich der Herr bin; ich habe die zerstörten Orte wieder aufgebaut und das Verwüstete neu bepflanzt. Ich bin der Herr; ich habe es geredet, und ich werde es tun. ↩
- (Keener, Craig S. Acts: An Exegetical Commentary: Volume 1: Introduction and 1:1-2:47 (2012, Kindle edition). ↩
- Richard I. Pervo, Acts: A Commentary (2009), 64 ↩
- Cessationismus versus Continuationismus ist ein christlich-theologischer Streit darüber, ob geistliche Gaben der Kirche weiterhin zur Verfügung stehen oder ob ihr Wirken mit dem apostolischen Zeitalter der Kirche (oder bald danach) aufgehört hat. Die cessationistische Lehre entstand in der reformierten Theologie: zunächst als Reaktion auf die Behauptungen über römisch-katholische Wunder. Moderne Diskussionen konzentrieren sich mehr auf den Gebrauch von Geistesgaben in den Pfingst- und Charismatischen Bewegungen, obwohl dieser Schwerpunkt auch in Traditionen gelehrt wurde, die früher entstanden sind, wie z. B. der Methodismus.
Der Cessationismus ist die Lehre, dass geistliche Gaben wie Zungenrede, Prophetie und Heilung mit dem apostolischen Zeitalter aufhörten. Die Lehre wurde in der Reformation entwickelt und wird vor allem mit den Calvinisten in Verbindung gebracht. Die neuere Entwicklung hat sich auf andere geistliche Gaben konzentriert, was auf das Aufkommen der Pfingstbewegung und der charismatischen Bewegung zurückzuführen ist, die den Kontinuitäts-Vorstellung popularisiert haben, d. h. die Auffassung, dass die geistlichen Gaben für alle Christen in jedem Zeitalter bestimmt sind. ↩