Erzählende Affen – warum Narrative uns zu Menschen machen

1750 Worte. 8 Min. Lesezeit plus 45 Min. Videos.

Warum Mensch ein geschichtenerzählender Affe ist, macht ein Bestseller in lockerer Sprache auf über 500 Seiten deutlich. Wie wichtig diese Erkenntnis ist, zeigt die Macht der Fake-news und die Millionen Mikroerzählungen, die wir in sozialen Netzwerken täglich miteinander teilen. Was das alles mit Religion und unserem Trans-Christentumprojekt zu tun hat, liest du nun hier.

Klimawandel ist eine verharmlosende „Geschichte“, Erfindung der republikanischen Politik der USA. Eine weitere manipulative Erzählung ist die des „CO2-Fußabdruck“ jedes einzelnen. Die wahren Bösewichte sind die Fossilen Konzerne. Erzählungen stützen Systeme. Wir müssen eindrücklich erzählen, was wir als Menschen für unsere Kinder an Schönerem erwarten können: Neue Erzählungen von einer Welt mit besserer Luft, gesünderer Nahrung, entspannterem Leben in Einheit mit der Schöpfung.

Warum also das uralte Framing der „Heldenreise“ für diese Aufgabe nicht funktioniert, hat schon Manuel Kronenberg hier hervorragend und einleuchtend erzählt.

In ihrem Bestseller „Erzählende Affen“, zeigen Samira El Ouassil, Friedemann Karig wie Mythen, Lügen, Utopien wie in allem durch und durch Geschichten unser Leben bestimmen. Und hier macht auch die Religion keine Ausnahme. Im Gegenteil die Religionen waren die ersten großen Narrative, die die Menschheit geprägt und zu dem gemacht hat, wie wir heute Leben als sinnvoll deuten.

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Erzählen ist universal, Menschen lieben Geschichten, erzählen über sich und andere und bilden somit die eigene Identität, auch die ihrer Gemeinschaft. Diese Wahrheit klingt in dem Buch von Samira El Ouassil und Friedemann Karig an; sie gerät aber irgendwann völlig in den Hintergrund, weil sie zu basal anthropologisch und psychologisch-menschlich scheint. Stattdessen schieben die Autorin und der Autor das Ideologische im Lauf des Buchs immer weiter in den Vordergrund.

Kritik zum Buch: Josef König

Von Illias und Odyssee bis zu Herr der Ringe und Harry Potter

Dabei ist der Spannungsbogen anfangs gut gewählt. Ausgehend von der Grundthese, dass ein Großteil unserer »kognitiven Kapazitäten genau damit beschäftigt (ist): eine möglichst stimmige Selbsterzählung zu pflegen« und Geschichten »Atemzüge des Geistes« seien, baut das Autorenteam das Buch anhand zwölf typischer Elemente einer Abenteuer- und Heldenreise auf.

Die politische Pointe ihres Buchs ist aber gerade die Erkenntnis: Die wirkmächtigsten (und falschesten) Märchen für Erwachsene unserer Zeit sind strukturell gesehen Anti-Heldenreisen. Sie versprechen den Menschen kein Abenteuer, keine Reise, keine Transformation, nein, ihr Versprechen lautet vielmehr: Alles kann schön so bleiben, und nichts muss sich ändern, solange wir nur arbeiten und anhäufen, uns nicht beklagen und vor allem: glauben.

Präventives Handeln, wie es die Corona-Pandemie und die Klimakrise erfordern, verträgt sich nicht mit der abenteuerlichen Heldenreise. Oder wie der Virologe Christian Drosten sagt: „There is no glory in prevention“, mit Prävention lässt sich kein Ruhm ernten.

Kritik des Buches von: Denis Scheck

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Narrative brauchen eine Gruppe. Gruppen bilden Narrative

„Narrative sind also die effektivste Art von kommunikativen Spiegelsystemen. In ihnen reflektieren sich die Erzählerinnen und die Zuhörerinnen. Doch sie bieten noch ein unschlagbares Feature: Sie können fiktive Spiegel sein. Wir können in ihnen Identitäten, Handlungen und Willensbildungen entwerfen, ausprobieren, trainieren und wieder verwerfen. … Zwei Werkzeuge geben wir Kindern damit an die Hand. „Das eine ist die explizite Semantik der Kultur, in er sie leben – ihre Gebräuche und Praktiken, Werte und Maßstäbe, Mythen und Legenden. Das andere ist die implizite Syntax ihrer Alltagspsychologie, die angibt, wie menschliche Akteure funktionieren, was sie denken und tun, in welcher Beziehung ihr Denken zu ihren Handlungen steht und wie sie für ihre Handlungen belohnt und bestraft werden – sei es im Himmel oder auf der Erde.“ Das Selbst ist also nur eine Geschichte, die ich mir über mich selbst erzähle, weil ich sie durch andere erfahren habe. … Man könnte auch sagen: Wir sind eine Horde Affen, die innerlich Theater spielen. S. 117f

Mit dieser Beschreibung wird überdeutlich, welche grundlegende und formende Rolle die Erzählungen der Bibel für die Menschen hatte. Religion ist ein identitätsbildendes und steuerndes Narrativ über den Menschen.

Ich bin Konstante und Entwicklung, denn ich bin meine Geschichte und gleichzeitig der Held darin. Wenn man mich fragt, wer ich bin, könnte die Antwort also lauten: Ich bin der Schatz, die Schatzkarte und die Reise dorthin. In dieser Perspektive wird das Was, das Wer, und das Wie meiner Identität durch die Geschichte etabliert, die ich über mich selbst erzähle. S. 121

So sind Selbsthilfegruppe Erzählgruppen, die das eigene Narrativ überarbeiten helfen. Seelsorge lebt von dieser Erzählung mit allen 3 Dimensionen: Was, Wer, Wie? Und wir wissen alle, wie sehr wir uns davor schützen, dass diese Geschichte Risse bekommt, Dissonanzen sind identitätsbedrohende Herausforderungen.

Spannende ist die Erkenntnis, wiefern die Topografie die Identität prägt. Z. B. die von Griechenland: zerklüftete Inseln von schroffen Küsten abgetrennt förderten die individualbasierte Arbeit (Fischen, Olivenölproduktion) als die gruppenbasierte Landwirtschaft auf großen Feldern. So wurde die griechische Kultur zur Erfinderin des Individualismus.

„Da individuelle Selbständigkeit der Schlüssel zum Erfolg war, wurde das allmächtige Individuum zum kulturellen Ideal. Als eine der ersten Kulturen strebten die antiken Griechen nach so modernen Werten wie Ruhm, Perfektion und Ansehen. … Diese Konzeption des Individuums als Ort der eigenen Macht, frei, das Leben zu wählen, das es wollte, anstatt Sklave der Launen von Tyrannen, Schicksalen und Göttern zu sein, war revolutionär.“ 126

Wir zitieren heute noch Aristoteles und Platon. Und die narrative Hegemonie der Athener hielt an, bis die Christen in den Jahrhunderten nach Christus mit einer völlig anderen Erzählung die Welt eroberten.

Der Wechsel vom griechischen zum christlichen Heldenideal

Wie genau ihnen das gelang, ist auf den ersten Blick ein Rätsel. Denn nach der vielfältigen, hedonistischen, freien griechischen Narrative begann nun ein wahrhaft dunkles Mittelalter der Selbsterzählung: „Asche zu Asche, Staub zu Staub“ – als Sünder werden wir geboren, und nur ein Leben in Glauben und Gehorsam kann uns eventuell retten. Das Leben als Wettbewerb gegen mich selbst, den ich kaum gewinnen kann, weil schon mein Fleisch, meine Gedanken, jede meiner Regungen im Grund unrein und folglich des Teufels sind. … Wo vorher schlaue und starke, schöne und gerissene Helden Abendeuter auf sich nahmen, um es den Göttern gleichzutun und Unsterblichkeit oder wenigstens unsterblichen Ruhm zu erlangen, blieb nun als einziger Ausweg das Märtyrertum, die totale Aufopferung für den Glauben … 127f

Mit einer solchen Beschreibung, die am ehesten noch auf das Christentum seit Augustin zuträfe, identifizieren die Autoren nun leider aber auch die urchristliche Phase der Märtyrer einer Minderheitenkirche. Sie vermuten, dass die Attraktivität der Christen in ihrem „starren Kodex an Selbstverneinung“ bestand. (Was soll da attraktiv sein?)

Doch wozu diese narrative Selbstkasteiung? To get along and get ahead. So konnte man sich noch am ehesten einen Reim auf brutal ungerechte Verhältnisse machen. In der feudalen Ständegesellschaft des Mittelalters, in der die allermeisten Menschen eine kleinen Elite aus Adel und Klerus unterworfen waren; man jederzeit von Krankheiten dahingerafft, verhungern oder von mächtigeren Menschen getötet werden könnte; ein kurzes Leben voller Mühsal und Beten schon ein Privileg war – in einer solchen Zeit brauchte man eine mit den Ungerechtigkeiten kompatible Erzählung. Das Christentum in seiner ursprünglichen Ausprägung war die perfekte Story für diese Sklaverei. Opfer im Diesseits, Belohnung im Jenseits: genialer Einfall. 129

Wenn wir einer solchen Rekonstruktion des christlichen Narrativs durch die beiden Autor:innen lauschen, wird schnell deutlich, warum „dieses“ Christentum in unserer Zeit der Singularität1keine Resonanz mehr erzeugen kann. Heutzutage zählen „Selbstverwirklichung“ als neue Ideale als eine vom „kulturellen Code der Moderne tief verankerten Vorstellung des gesellschaftlichen Fortschritts und des Strebens nach Glück als individuelles Projekt“ … Dazu muss man jedoch an sich arbeiten, wie man heute sagt, vor allem an der eigenen Persönlichkeit. … wir sind eine „durchpsychologisierte Kultur, welche die Individuen unentwegt zur Selbstreflexion und Selbsttransformation animiert“. (S. 133) Anders als in dem bürgerlichem Narrativ der Moderne bis in die 70ger/80ger, in dem der Lebenssinn primär in „Pflichterfüllung und Reproduktion“ bestand. (S. 134)

Für unsere Transformation des Christentums als nuPerspective-Gruppe in eine neue Erzählung, einer Trans-Christentums-Erzählung, in der Spätmoderne sind diese Verschiebungen der kulturellen Rahmenbedingungen entscheidend und prägend dafür, welche Narrative Sinn oder Resonanz erzeugen.

Notwendige Definitionen und Begriffsklärung

Wir verhalten sich eigentlich „Narrativ“, „Erzählung“ und „Geschichte“ zueinander? Für uns bauen die drei Begriffe und das, was sie meinen, aufeinander auf. Das Fundament bilden die Narrative. Darum schichten sich die Erzählungen als kulturelle Manifestationen von Narrativen und darauf wiederum die konkreten Geschichten, die viele verschiedene Formen annehmen können. 141

Geschichte bezeichnet also, was erzählt wird. Erzählung steht dafür, wie und mit welchen Mitteln und Motiven dies geschieht, und das Narrativ bestimmt, warum und wozu überhaupt erzählt wird. Handelt eine Geschichte zum Beispiel von einem Mann und einer Frau, die aus einem Garten geworfen werden, weil die Frau Obst von einem Baum geklaut hat, dann ist die Erzählung eine von Verführung, Schuld und Vertreibung, das vorherrschende Narrativ dieser Erzählung aber lautet: Frauen sind gefährlich.“ 143

Mit diesen Anregungen aus dem 522-seitiges Buch schließe ich. Die Aufgabe für unsere eigene, neue, vielleicht revolutionäre Narrativ-Entwicklung, das mit dem klassischen Narrativ des Christentums bricht, ist umfangreich.

Vieles aus dem Werk hat mich angeregt, vieles bleibt in seiner Summe aber doch plakativ wie am Beispiel der versuchten Rekonstruktion des „Christentums“ deutlich wird. Um die Auslegung und damit um das Narrativ der Adam und Eva-Geschichte (Story) gibt es ja große Diskussionen und großartige Versuche, diese Geschichte als Erzählung für heute zu retten (vgl. z. B. Den Versuch diverser Glaubenskurse eine psychologische Deutung – ganz im kulturellen Duktus der Zeit – vom „Misstrauen“ als der Ursünde des Menschen: „Sollte Gott gesagt haben?“). Übersehen wird dabei, dass die Erzählung von der weisheitlichen Tradition der Bibel geprägt wurde, die in Erkenntnis von „guten und Bösen“ einen hohen Wert sahen. Hier geht es also gar nicht um einen Abfall, sondern um eine Persönlichkeitsentwicklung, eine Reifung des Menschen? Kann uns der Mythos noch etwas als spätmoderner Gemeinschaft sagen? Andrew Perriman hat als entscheidende neue Lesart dieses Urnarrativs hier ausführlich dargelegt, dass der Gesamtzusammenhang von Kap. 3 bis 12 der Genesis erst den Sinne des Narrativs klärt.

  1. Vgl. Die These des Soziologen Andreas Reckwitz: 2018 „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“

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