Wie eine neue Rahmengeschichte alles verändert. Auf dem Weg zu einer postkolonialen Lesart der Wirklichkeit. NuPerspective zum Metamoderne-Christentum.
Dieser Artikel erklärt gründlich und ausführlich (3900 Wörter, 21 Min. Lesezeit), warum wir auf der Suche nach einer Metamoderne-Christentums-Theologie sein müssen. Unsere bisherige Welt liegt in Scherben, seit zwei Davids uns die Anfänge der Menschheit neu definiert haben. Zusätzlich haben Menschen an den Rändern der alten Kolonien den uns nicht bewussten Kolonialismus unserer Kultur aufgedeckt und die Suche nach einer postkolonialen Welt ausgelöst. Jetzt müssen wir notgedrungen alle uns so vertrauten Erzählungen eben neu konfigurieren. Machen wir uns an die Arbeit!
Wir verdanken uns mit unserer westlichen Kultur einer Aufstiegserzählung, in der wir (Deutsche und die weiße Rasse) angeblich zurecht zu den berufenen Lehrer:innen der menschlichen Zivilisation gehören. Der überbordenden Reichtum Europas (und in der Nachfolge dann auch die USA) und die in den letzten 300 Jahren erarbeiteten technischen Errungenschaften scheinen zur Rechtfertigung zu genügen. Dass derselbe globale „Westen“ dank seines Reichtums und der Industrialisierung Verursacher der Klimakatastrophe ist, wird dann gerne verdrängt.
Eine alternative Erzählung ist nötig, um Demut und tiefes Erschrecken über unsere europäische Schuld zu erzeugen. Diese Story entfalten David Graeber und David Wengrow in ihrem Buch „Anfänge“ eine neue Geschichte der Menschheit“ 2022 auf 672 Seiten. Sie öffnen uns die Augen für ein neues Bild der Menschheitsgeschichte, so dass sich die Anfänge unserer Zivilisation vor über 150.000 Jahren mit der Zukunft der Menschheit neu denken und verbinden lässt.
Ihre Beobachtung: Über Jahrtausende hinweg (lange vor der Aufklärung!) wurde schon jede erdenkliche Form sozialer Organisation erfunden und nach Freiheit, Wissen und Glück gestrebt. Lebendig und überzeugend ermuntern die Autoren uns, mutiger und entschiedener für eine andere Zukunft der Menschheit einzutreten und sie durch unser Handeln zu verändern.
Bernd Scherer hat als Intendant des Berliner Hauses der Kulturen der Welt die postkoloniale Wende in den deutschen Kulturinstitutionen mit am aktivsten vorangetrieben. Das Buch „Anfänge“ stellt für Scherer und Franke eine kopernikanische Wende dar, und es wird, wie sie hoffen, zu einer Selbstaufklärung des überheblichen Westens beitragen.
- Die westliche Aufklärung ab 1750, so stellt sich in diesem Buch nämlich heraus, verdankt sich wesentlich dem Gespräch, das Mönche, Kleriker und andere Reisende mit indigenen Völkern, besonders in Amerika führten: Diese hätten ihnen durch ihre radikale Kritik an Eigentum und Hierarchie die Idee der Aufklärung erst eigentlich eingepflanzt. Die indigene Kritik war es, die die „revolutionäre Durchsetzung von bürgerlichen Freiheitsrechten in Europa zur Folge“ hatte, so Scherer und Franke.
Aber für diesen emanzipatorischen Impuls revanchierten sich die Aufklärer, indem sie die Indigenen diskursiv in den „Naturzustand“ zurückversetzen, um sich selbst zum letzten Glied der evolutionären Kette zu stilisieren.1 - Ein anderer Rezensent, Eike Gebhardt, bricht eine Lanze für den verstorbenen Anthropologen David Graeber und dessen Co-Autor David Wengrow. Ihr Anliegen — eine „neue Geschichte der Menschheit“ zu schreiben, sei zwar alles andere als bescheiden, doch Bescheidenheit ist in diesem Fall vielleicht auch gar nicht angebracht. Geht es doch darum, die seit Jahrhunderten vorherrschende Fortschrittslogik in der Entwicklungsgeschichte menschlicher Zivilisation endgültig infrage zu stellen, und zwar ohne eine Alternative anzubieten!
Denn das ist der Clou, die These, die die Autoren sehr anschaulich belegen: Es existiert keine einheitliche Entwicklungslogik, kein gerader Weg, der von allen Zivilisationen beschritten wurde bzw. werden muss. Damit ist auch der gegenwärtige Zustand unserer von Ungleichheit geprägten Gesellschaften alles andere als alternativlos, stellt Gebhardt fest. - Kein Wunder also, dass die Autoren von allen Seiten angegriffen werden, meint der Kritiker. Sie ignorierten historische Fakten, wird ihnen vorgeworfen. Dabei sind es offensichtlich jene Anhänger des Fortschrittsglaubens, lesen wir, die die Fakten ignorieren bzw. als unwichtige Ausnahmen abtun, wie Graeber und Wengrow anhand zahlreicher Beispiele deutlich machen. Wem das dominante Geschichtsmodell nützt? Diese Frage kann sich jeder nach der Lektüre von „Anfänge“ selbst beantworten…2
Die Entstehung der modernen Zeiteinteilung in Epochen der Menschheit
Erst im Zeitalter der Dekade des Darwinimus 1859-1871 „brach der Boden (der bisherigen Darstellung) der Menschheitsgeschichte“ (96),
- das bis dahin dominante biblische Weltbild 6000 Jahre Weltgeschichte löste sich auf
- unsere „moderne Vorgeschichte“ entstand aus neuen Funden und Interpretationen…3
Diese Formulierung verdanken wir Thomas Trautmanns Darstellung dieser »Zeitrevolution« (Trautmann 1992). Zwar entstand das Fach Anthropologie in der sogenannten »Darwin-Dekade« (also zwischen der Veröffentlichung von „Die Entstehung der Arten“ 1859 und „Die Abstammung des Menschen“ 1871), doch die heute gültige Zeitskala der menschlichen Vorgeschichte etablierte sich nicht durch den Darwinismus, sondern durch archäologische Ausgrabungen. Die Geologie bereitete den Weg und ersetzte das biblisch inspirierte Bild, nach dem die Erde durch eine Reihe schneller gigantischer Umwälzungen entstand, durch ein mechanistischeres und entschleunigteres Bild von der Entstehung unseres Planeten.4
In beiden kulturellen Phasen , den heutigen „Nationen“ und den historischen „Jägern und Sammlern“, gibt es eine enorme Bandbreite von Möglichkeiten,
- von ausgesprochen egalitären Gruppen wie den Ju’hoansi der Klahari, den Mbendjele BaYaka des Kongo oder den Agta auf den Philippinen
- bis zu hochhierarchischen wie den Populationen an der kanadischen Nordwestküste, den Calusa der Florida Keys oder den im Wald lebenden Guaicurú von Paraguay. (Letztgenannte Gruppen sind alles andere als egalitär. Man weiß, dass sie traditionell Sklaven hielten und in Gesellschaften mit strenger Rangordnung lebten.)
- Wer sich auf irgendeine besondere Population heutiger Wildbeuter (früher die sog. „Jäger und Sammler“) als Repräsentanten »der frühmenschlichen Gesellschaft« beruft, betreibt also Rosinenpickerei. 5
Die Suche nach einer solchen angeblichen »Ursprünglichkeit« bedeutet mit anderen Worten, dass es auch eine »ursprüngliche« Form der menschlichen Gesellschaft gab… — Doch die ersten Menschen lebten in mannigfaltigen natürlichen Umwelten, von denen Forscher:innen lediglich vermuten, sie seien außergewöhnlich vielfältig gewesen.
Das „Sapienz“-Paradox gibt zu denken
Der klassischen Lesart zufolge verfügen wir Menschen einerseits zwar seit vielen Jahrtausenden(!) über moderne Gehirne, haben aber aus unerfindlichen Gründen dennoch beschlossen, wie Affen zu leben (merkst du es?)! Anders als Affen hätten wir die Fähigkeit entwickelt, effizient unsere Instinkte zu überwinden und uns unendlich vielfältig zu organisieren. Mit was für einem ähnlich obskuren Grund hätten wir uns aber dafür entschieden, unser Leben stets auf die selbe Art zu gestalten? (111f).
Saisonalitäts-Prinzip: Klima als der formende Kontext
Die Antwort ist wahrscheinlich ganz einfach: die Jahreszeiten und ihre Lebensphasen. Die darauf fußende Saisonalität war verwirrend. Tatsächlich ist sie eine Art Joker.
- Die Gesellschaften der Great Plains schufen Strukturen von Zwangsautorität, die während der gesamten Jagdsaison und den auf sie folgenden Ritualen Bestand hatten und wieder verschwanden, wenn sich die Versammelten erneut in kleinere Gruppen auflösten.
- Dagegen teilten sich die Gesellschaften in Zentralbrasilien in Wildbeuterhorden auf, in denen eine politische Autorität ausgeübt wurde, die im Setting des Dorfes unwirksam war.
- Bei den Inuit herrschten im Sommer die Väter; aber bei ihren winterlichen Zusammenkünften wurden die patriarchalische Autorität und sogar die Normen sexuellen Anstands in Frage gestellt, untergraben oder einfach aufgelöst.
- Die Kwakiutl waren in beiden Jahreszeiten hierarchisch organisiert, hatten aber jeweils eine andere Form von Hierarchie. Bei den Feierlichkeiten | (134) der Wintersonnenwende verliehen sie den Darstellern (»Bärentänzern«) eine effektive Polizeigewalt, die jedoch nur während und für die Durchführung des Rituals ausgeübt werden konnte. 135 |
Mit anderen Worten, es gibt kein einheitliches Muster. Das einzige durchgehende Phänomen ist die Tatsache der Veränderung selbst mit dem daraus resultierenden Bewusstsein für unterschiedliche soziale Möglichkeiten.
All dies ist eine Bestätigung für die These, dass es sich bei der modernen Suche nach den »Ursprüngen der sozialen Ungleichheit« (und das war im 18. Jh. des Absolutismus in Europa der Stachel im Fleisch!) in der Tat um die falsche Frage handelt.
Sollten wir Menschen uns den größten Teil unserer Geschichte fließend zwischen verschiedenen Sozialordnungen hin- und herbewegt haben, wenn wir regelmäßig Hierarchien aufgebaut und wieder abgebaut haben, dürften die richtigen Fragen vielleicht so lauten:
»Wieso sind wir stecken geblieben? Wie sind wir bei einer einzigen Ordnung gelandet? Wie haben wir das politische Bewusstsein verloren, das für unsere Spezies einst so typisch war? Wie kommt es, dass wir hohes Ansehen und Unterwürfigkeit als unentrinnbare Elemente des menschlichen Daseins betrachten und nicht mehr als befristete Notlösungen oder gar als Pracht und Herrlichkeit einer großartigen saisonalen Theateraufführung? Wenn wir anfangs nur gespielt haben, wann haben wir vergessen, dass wir spielten?
Diesen archäologischen und anthropologischen Forschungen fügen die Autoren auf 600+ Seiten unzählige das überlieferte koloniale, aufklärerisch-westliche Narrativ korrigierende Details und neue Fakten der archäologischen Forschung der letzten 30 Jahre hinzu. Diese Sammlung neuster Forschung und Hypothesenbildung sind umstürzend (auch anders als Yuval Harari die Welt konstruiert) — umstürzend auch für die Fragen zur Theologieentwicklung.
Warum ist dieses alternative Narrativ für die Theologiebildung so wichtig?
Postkolonialismus und Theologie
Große Rahmengeschichten (Narrative) prägen (ähnlich dem „primen“) unterbewusst die vielen kleineren Geschichten, wie wir mit der oben beschriebenen Fragestellung zeigen konnten. Die kulturelle und spirituelle Entwicklungsgeschichte der Menschheit erzählten wir traditionell eurozentrisch (meist) aus dem 6000jährigen Horizont seit Beginn der Schriftphase der Menschheit als Aufstiegsgeschichte, zu der das Christentum westlicher Prägung angeblich grundlegend beigetragen hat, obwohl es Mittäter der kolonialen Unterwerfung der Welt wurde. Es hatte eben leider bei der Kolonisierung eher mitgespielt als deutlich widersprochen. Die neueren postkolonialen Forschungen haben uns in Deutschland erst Mitte der 2000er erreicht und fangen gerade an, uns für unsere unbewussten Vorannahmen in sozialer und theologischer Hinsicht zu sensibilisieren. Vielleicht wunderst du dich, warum bestimmte Themen wie „Gendern“, Black Lives Matter, Vielfalt oder Nationalismus aktuell so umstritten diskutiert werden. Es geht um einen Paradigmeinwechsel: Kolonial-rassistisches Denken oder egalitäre Werte. Wir befinden uns um eine grundstürzende gesellschaftliche Transformation mitsamt ihren Gegentrends.
Der Postkolonialismus ist eine geistige Strömung, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts in bewusster Auseinandersetzung mit „unserer“ eurozentrischen Sicht auf Geschichte gestartet ist und sich kritisch mit dem eurozentrischen weltweiten Kolonialismus und Imperialismus auseinandersetzt.
Übrigens ist der Sitz im Leben der postkolonialen Forschung in einer deutscher Universität ab 2014 die Universität Kassel, in der deutschlandweit der erste politikwissenschaftliche Lehrstuhl eingerichtet wurde, der sich postkolonialen Studien widmen soll. Er ist besetzt mit Aram Ziai.14
Zusammenfassend noch einmal die Schlüsselthese postkolonialer Forschung:
Im Prozess der Kolonialisierung habe ein gewaltförmiger Kulturkontakt stattgefunden: Eine Kultur eroberte die andere, formte sie nach ihrem Bilde um, veränderte und zerstörte sie, um sie zu beherrschen. Diese Veränderung sei nicht nur durch militärische Gewalt, sondern auch durch die Macht der Sprache und des Wissens erfolgt. Die europäische Wissenschaft definierte im Zuge der Durchdringung der Welt, was z. B. orientalisch bzw. asiatisch, aber in der Selbstbeschreibung auch, was westlich und europäisch ist. Trotz ihres neutralen Anspruchs lege sie dabei eurozentrische Maßstäbe an: Schon die Bezeichnung aller Kontinente stamme aus dem alten Rom (mit Ausnahme der Benennung Amerikas).
Die theologische Aufgabe (z.B. für ein Missionsverständnis oder die Deutung der Theologien-Enwicklungen ehemaliger Kolonien) bedeutet eine kritische Reflexion auch der fragwürdigen Folgewirkungen eigener Kirchengründungen/Theologieenwicklungen:
Der Postkolonialismus bezeichnet daher den Rückgriff kolonisierter Subjekte auf scheinbar eigene Traditionen als fragwürdig, da diese Traditionen durch die westliche Definitionsmacht geprägt, umgeformt oder gar erst geschaffen wurden. Dadurch wird zwar nicht die Authentizität der Tradition gemindert; ihre Reproduktion fixiert in ihrer Artikulation allerdings die historisch begründete Deutungsmacht der westlichen Kulturen. Postkoloniale Ansätze, entwickelt von Immigranten in den USA und Intellektuellen aus Indien, untersuchen diesen paradoxen Prozess der Selbstfindung von Gruppen und Individuen aus den ehemaligen Kolonien. Das Präfix post- wird im Rahmen der Theorie damit nicht länger linear-historisch verstanden, da sich das Geschichtsverständnis hin zu einer Sicht komplex-verschränkter Wechselwirkungen entwickelt hat.
Die „Neue Geschichte der Menschheit“ von David Graeber und David Wengrow dekonstruiert durch Vergrößerung des Fokus auf über 150.000 Jahre statt auf 6000 Jahre Menschheitsgeschichte schonungslos die Idee, wie zivilisatorisch „logisch“ unsere koloniale Vorherrschaft in der globalen westlichen Welt wäre. Dabei ist diese bisher kurze 500jährige Phase der Menschheitsgeschichte auch noch wie in der meisten Zeit der 6000 Jahre von autokratischen Ideologien und Königsherrschaftsformen geprägt. Die entsprechend nötige Unterwürfigkeit der Untertanen stützten die christentümlichen Theologien wie selbstverständlich und erzeugten eine patriarchale Unterdrückungswelt. Natürlich gab es in allen Zeitaltern Gegenströmungen oder -Trends, um Despotie und Gewaltherrschaft zu ächten. Doch die Siegergeschichte gehörte der kleinen Gruppe der Aristokraten, später dann der imperialen Gewinner, Kaufleute, Handelsgesellschaften (z. B. Ostindien-Gesellschaft ab 1600). Selbst der aufklärerisch-demokratische Aufbruch samt dessen philosophischen Denklogiken (z.B. Humboldt, Rousseau, Kant) ab 1750 in Europa wird nun von Graeber und Wengrow neu gedeutet. In dieser Phase wurde auch die wissenschaftliche Theologie als kritische, aufklärerischer Theologie entwickelt. Sie blieb aber immer Kind des imperialen Zeitgeistes. Welche Themen die Theologie als postkoloniale (postimperiale) Theologie zu bedenken hat, zeige ich nun beispielhaft an sechs Themenfeldern auf:
1. Geschichte/Politik:
- Die Machtstrukturen-Kritik: ihr geht es um kritische Auseinandersetzung über die politischen, ökonomischen und kulturellen Verflechtungen, Abhängigkeiten und Machtstrukturen unserer westlichen Welt und wie diese das theologische Denken unbewusst geprägt hat.
- Die „Darstellung der tiefen Verpflechtungen unserer Rede von Gott, unserer Art und Weise, Kirche zu denken oder unsere Vorstellung der letzten Dinge, die oft unreflektiert (weil unbewusst) durch die Machtverhältnisse des Kolonialismus korrumpiert sind und wie diese zu dekolonisieren seien“.6
- Die These der Externalisierungsgesellschaft: „Neben uns die Sintflut“, 2017 eingeführt vom Soziologe Stephan Lessenich. Die Logik und Mechanismen des neokolonialen Neo-liberalen Wirtschaftens und sich daher ergebende ethische Forderungen und Folgerungen. Selbstkritisch ist hier zu klären, wo hat die Theologie mitgespielt statt Widerstand zu leisten? Und warum eigentlich stand sie (öfter?) auf der Seite der Reichen, Einflussreichen und Mächtigen?
- Nationalismus: Die National-Staaten-Bildung in Europa nach Zerfall des „heiliges römischen Reiches deutscher Nation“, Nationalismus und Nationalistische Abgrenzungslogiken. Gerade diese religiös-politischen Konstrukte haben zu den größten kriegerischen Katastrophen der Neuzeit (1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg) mit unserer deutschen Schuld geführt. Welche Rolle spielte hier eigentlich eine christentümliche Logik in der Theologie?
- Was waren also die Gründe für die erstaunliche Impotenz der deutschen Kirchen gegenüber der Nationalsozialistischen Ideologie? Bei gleichzeitiger Abgrenzung der Theologie zu demokratischen oder kommunistisch-soziokratischen Ideenwelten bis in die 1985er zeigte die staatstragende Kirche in Deutschland (EKD) überdeutlich blinde Flecken der klassischen Theologie.
Identitäts-Diskurse:
- Vielfaltsdiskurs: Aufgabe ist es, postmoderne plurale Perspektiv-Welten gleichberechtigt in den Dialog zu bringen: Wer darf reden? Wer wird ausgeschlossen? Welche Tabus werden hochgehalten? Welche Brüche mit den eigenen Traditionen werden zugelassen? Welche eigenen Denkvoraussetzungen/Wertungen werden überprüft? Das alles sind auch Qualtätskritierien, an der sich jede Theologie messen lassen muss!
- Identitätsdiskurse: Gender, Sex, Identitätsfestschreibungen und Essentialisierungen: Wo werden Grenzen zwischen „Uns“ und „den Anderen“ gezogen? Welche Machtfragen gehen damit einher? Dazu hat z. B. Renate Wind: Christsein im Imperium, 2016: Widerstand gegen die römischen Herrschaftsideologie als Merkmal der frühen Christen geforscht. Was sind postimperiale theologische Beiträge zu der heutige Debatten um Integration und Leitkultur?
- „Weiße alte Männer“-Meme (Patriarchale Strukturen, Feminismus). Wie ist die Theologie noch davon geprägt, welche Autoren werden gelesen, zitiert und welche Autorinnen eben nicht?7
Emanzipations-/Befreiungsdiskurse:
- Frauenfrage, Sexismusdebatte (wer darf den Mund öffnen, wer darf leiten?). Essentialisierungen, d.h. der Zuschreibung unveränderlicher Eigenschaften (positive wie negative) an andere.
- Black Lives matter als aktueller Diskurs in den USA. Wie betrifft er uns in Deutschland, was müssen deutsche, weiße Mittelstandskirchen darüber wissen und wie können sie sich inklusiver aufstellen?
- Emanzipationsbewegungen: Die „politische Theologie“ der 1960er: Befreiungstheologien, Feminismus, Emanzipationsbewegungen samt Anklage gegen die „Neokolonialisierung“. Wo haben sich religiöse Akteurinnen zu Mittäterinnen des Kolonialismus gemacht? (z.B. die eurozentrische Sichtweisen und ihre Wirkung auf religiöse Begründungsstrukturen). Vgl. auch die verdächtige Rede von „Entwicklungsländern“ als Logik des Zivilisierungs-Narrativs, das Graebe und Wengrow endgültig entzaubern.
- Gerechtigkeitsdiskurs: Die postkolonialistische Denkrichtung nimmt die noch immer vorhandenen globalen Machtgefüge (Neokolonialismus) kritisch in den Blick und sieht sich dem Ideal einer „transnationalen sozialen Gerechtigkeit“ verpflichtet.11 Er wird von Minderheiten aller Teile der Welt verwendet, um Unterdrückungsstrukturen transformierend zu reflektieren. Hier muss auch der reichtumskritische oder kapitalismuskritische Diskurs andocken, die Fragen nach dem „richtigen“ Geldsystem scheint vordergründig eine rein ökonomische Frage zu sein, hat aber z.B. in der Formel „die unsichtbare Hand“ tiefe theologische Wurzeln („8“), die nicht mehr bewusst sind und die kritisch reflektiert werden müssen.
- Das Themenbündel: Migration, Europa und seine Grenzen (der Nationen/Europas) verlangt nach aktuellen, neuen ethischen postimperialen Antworten.
- Krieg und Frieden, Konfliktforschung (Walter Winks „Mythos der erlösenden Gewalt“): und welche Rollen spielen die religiösen Begründungen, Konstruktionen von göttlich legitimierter Macht und Tötungserlaubnis (im Krieg), das „göttliche Banngebot“ usw. gerade in den aktuell besonders präsenten Krisen (Russlandkrieg, Hamaskrieg).
Mission:
- Kritische Missionsgeschichte als imperiale Kolonialgeschichte (samt Diskreditierung des „Missions“-Begriffs, der nicht mehr unschuldig gebraucht werden kann.) Das ökumenische Miteinander der Kirchen erlebt gerade die Interreligiöse Ökumene zumindest auf Ortsebene als Epochenbruch, eher nicht gewollt, aber passiv erlitten, der nun alle zum Handeln in der neuen Globalisierungsherausforderung zwingt.
Spannend sind auch die Herausbildung von spezifisch kontextuellen Theologien in weiten Teilen des südlichen Christentums, samt sich weiterentwickelnde Pluralisierung der methodischen Zugriffe auf theologische Themen: „Ist etwa ökumenische Einheit als Symbol des Reiches Gottes und eschatologischer Hoffnung nicht inzwischen eine, theologisch zwar legitimierte, jedoch in konkreten Vollzügen gar nicht mehr erstrebenswerte Vision aufgelöst“…? (S. 14: Postkoloniale Theologien II). Problematisierung der „interkulturellen Theologie“ (dieser neue Denkrahmen ersetzt die bisherige Missionswissenschaft): Dieser Denkrahmen hängt von einer universalisierenden Perspektive ab, die der globale Imperialismus erst ermöglicht hat… Welche Narrative erzählt man sich aber in lokalen Theologien? - Die Diskussion betrifft auch die Evangelisations-Debatte in Deutschland (gestartet Mitte des 19. Jh. als „Heimat-Mission“ oder „innere Mission“), die aktuell nach der Auseinandersetzung mit us-amerikanischen Missionsbemühungen wie die „Billy-Graham-Mission“, „ProChrist“ und andere evangelikale Formate (Alpha-Kurs) übergeht in die
- Kontextualisierung: Ein neuer missionaler Missionsbegriff betont die Notwendigkeit zum „kultursensitiven Dialog“ und der Frage nach „dem Evangelium“ (z. B. durch die engl. Fresh-X-Theologie von Moynagh) ist die entsprechende Anschlussdiskussion für die FreshX-Kirchenentwicklung (gespeist auch aus der „Emergenten Bewegung“) samt der Fragen nach den leitenden Motivationen und interkulturellen Kompetenzen und wie Inkulturation und Kommunikation des Evangeliums millieusensibel zu leisten ist.
- Interreligiöse Kommunikation des Evangeliums: Die notwendige Diskussionen um eine Religionstheorie (Postkoloniale Theologie der Religionen), die spätestens mit Aufgabe des sog. „Absolutheitsanspruchs“ des Christentums an die christliche Theologiebildung die Frage stellt, mit welcher Argumentation die christliche Perspektive zur Leitperspektive zu erheben ist. Zum Beispiel ist problematisch wie K. P. Jörns, der zwar einen interreliösen Kanon fordert, aber zugleich doch den „Jesus“ noch imperial als „besonders klare“ oder „einzigartige“ Repräsentation der Religionen darstellt. Der Preis seiner (Aufklärungs-)Logik ist die Aufgabe des Jüdischseins Jesu. Weiterführend ist hier die eher „neutrale“ Brille einer „komparativen Theologie“. Sie fordert eine faire, aber (immer auch) perspektivische (nämlich die Sicht aus der Beteiligtenperspektive) Erkundung fremder Religionen.
Ekklesiologie:
- Minderheitenkirche: Die sich gerade entwickelnden offenen Fragen einer Post-Volkskirchlichen Minderheiten-EDK: Wie versteht sich Kirche im kommenden„ohnmächtigen“ Minderheitenstatus mit dem gefühlten Verlust alter imperialen Herrschaftserinnerungen, z. B. dem Bildungsmonopol für religiöse Bildung, Versorgungsanspruch aller (Amtshandlungen), enge Kooperation mit der Macht… . Welche Kirche im metamodernen Christentum ist denn erstrebenswert? Die imperiale Restauration alter christentümlicher Mehrheitssehnsüchte wird im Namen einer postkolonialen Theologie abzulehnen sein.
Hermeneutik/Exegese:
- Exegese und Normative Bibelverständnisse: Hier tobt der Kampf um die letzte Begründungsinstanz jeglichen theologischen Ringens, welche Auslegung am Ende Gültigkeit beanspruchen darf. Wer definiert die Hermeneutik? Wer darf dann nur noch in diesem Denkrahmen lesen? Was bedeutet also Entkolonisierung der Biblischen Studien? Es geht um nichts weniger als die kritische Reflexion der Wirkungsgeschichten der imperial-christentümlichen Narrative. Wie lassen sich „eigenständige Interpretation der Bibel verschiedenster Auslegungsgemeinschaften“ ins Gespräch bringen? Wie betrachten wir postkolonial geschult die Imperien und ihre Theologien zu alttestamentlichen und neutestamentlichen Zeiten in ihrem Einfluss auf die Theologien Israels? Dort gilt es Hybriditäten, verborgene Formen des Widerstands wahrzunehmen, aber auch die Entdeckung der gesellschaftlichen Bedingtheit aller (gewiss auch unserer!) Lesart(en). Gegenüber dem 19. Jh. veränderten sich die Perspektiven der Orientalistischen- und Altertums-Wissenschaften, wie können wir die neue Forschung theologisch integrieren? Wir arbeiten mit Andrew Perrimans und seinem Sonderweg mit postkolonialer Perspektive daran, eine post-christentümliche Auslegung der Heiligen Schriften kritisch stark zu machen.
- Jüdisch-Christlicher Dialog: Hier geht es oberflächlich nur um theologische Annäherungen. Aber in postkolonialer Perspektive erweitert sich das Bild, wenn die theologischen Begründungsfiguren für 1700jährigen Judenverfolgung mitreflektiert werden müssen und besonders deren Wirkungsgeschichte durch die mehrheitlich antisemitisch bleibenden „Aufklärung“, die zu der von Deutschen initiierten katastrophalen SHOAH führten.
Die ausstehende Selbstbefreiung aus unserer eigenen Unterdrückungs-Identät als Opfer der Germanenmission:
Interessant ist die Beobachtung der Kolonialisierung durch Religion, wenn wir sie auf unsere eigene Missionsgeschichte (z. T. gewaltsamen Germanenmission) in Deutschland fokussieren: Welche theologischen Plausibilitäten spiegeln unbewusst immer noch die Nachwirkungen unsere eigene Kolonialgeschichte (Unterwerfung unter das römische Reich), die eng verzahnt mit dem Narrativ der Christentumsgeschichte zur Entstehung der christentümlichen Theologiebildung („entangled history“ s.u.) geführt hatte.
Postkoloniale Ansätze postulieren eine Option zur Modifizierung dieser festgefahrenen Strukturen. Im Aneignungsprozess des konstruierten Wissens vonseiten der Kolonisierten sehen sie Transformationspotential, das Widerstand gegen das Machtgefüge ermögliche. Mit der Neuformulierung geschichtlicher Erfahrung im öffentlichen Diskurs verändere sich der Inhalt des Wissens.
Aus diesem Konzept heraus entstand schließlich das Bewusstsein, dass die Kolonialisierung nicht nur Spuren bei den Kolonisierten, sondern auch bei den Kolonisierenden hinterlassen hat. Unter dem Stichwort der Verflechtungsgeschichte („entangled history“)9 versuchen postkolonialistische Ansätze, diese Spuren des Kolonialismus aufzudecken und zu zeigen, wie sehr der Kolonialismus durch den Diskurs zwischen allen beteiligten Parteien auch auf das Selbstverständnis der Kolonialmächte eingewirkt hat.
Theologisch interessant ist dieser Beleg:
Durch die Dominanz der Kolonialmacht in verschiedenen Lebensbereichen wie vor allem der Jurisdiktion und Religion (Einführung europäischen Rechts, Missionierung) wurde die Kultur des kolonisierten Raumes zerstört. Beispiele sind die Ermordung der schwarzen Schamanen und Voodoo-Houngans im Zuge des Sklavenhandels oder die Verbrennung von heidnischen Bildern und Schriften durch christliche Missionare in Südamerika, aber eben auch die Zerstörung heidnisch-germanischer Identitäten und in Folge die Verfolgung und Verbrennung z. B. von „Hexen“ in Deutschland.
Was bedeutet das für eine Theologie des metamodernen Christentums?
Die Folgerungen für unsere zu entwickelnde Theologie für ein metamodernes Christentum sind weitreichend und bedeuten einen Paradigmenwechsel, der umstritten sein wird:
- Welche imperialen Elemente der bisherigen Christologie und Ekklesiologie müssen wir postkolonial rekonstruieren? Erste Andeutungen, was dann übrig bleibt an Christologie und Ekklesiologie findest du hier im Blog.
- Wie hilft der historisch-kritische Zugang zum Narrativ einer kolonialisierten abweichenden religiösen Gruppe (Judentum des 1. Jh. n. Chr.), bevor es in die Logik und Unterwerfung des römischen Imperiums hineindiffundierte. Die historisch-narrative Deutung Perrimans ist unser erster Versuch eines Paradigmenwechsels weg vom universalen hin zum kontextuellen Lesen der Heiligen Schriften.
- Welche Theologien entwickelte die sog. „Alte Kirche“ (Zeitalter 150-380 n. Chr.) in der Zeit der griechischen und lateinischen „Kirchenväter“? Wie müssen in postkolonialer Lesart neu diese Theologien der Kirchenväter auf Spuren dieser Unterdrückungsgeschichte gelesen und kritisch hinterfragt werden? Bisher lautete das Mem: diese Phase war die „Hellenisierung des Christentums“. Postkolonial gedacht geht es aber nicht nur um eine kommunikative Adaption an hellenistische Sprachspiele, also „Übersetzung des Evangeliums“ in einen anderen Kulturraum. Sondern um die Unterwerfung unter eine antijüdische Konfigurierung von christlicher Theologie mit Übernahme des Mindsets der imperialen Herrscher und höchst folgenreiche Hybridbildung, die uns bis heute (antijüdisch) prägt und als die Norm-Theologie erscheint. Die Lesart der Bibel vor diesem Epochenumbruch zu schützen, ist erster Akt für eine postimperiale systematische Theologie heute.
Einführende Literatur zu Postkolonialen Theologien:
Postkoloniale Theologien II: Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, 2018 von Andreas Nehring (Herausgeber, Mitwirkende), Simon Wiesgickl (Herausgeber, Mitwirkende), Ulrike Auga (Mitwirkende), Lukas Bormann(Mitwirkende), Ciprian Burlacioiu (Mitwirkende), Marion Grau (Mitwirkende), Judith Gruber (Mitwirkende), Klaus Hock (Mitwirkende), Claudia Jahnel (Mitwirkende), Sabine Jarosch (Mitwirkende), Michael Nausner (Mitwirkende), Sigrid Rettenbacher (Mitwirkende), Bertram Schirr (Mitwirkende), Stefan Scholz (Mitwirkende), Henrik Simojoki (Mitwirkende), Florian Tatschner (Mitwirkende), Irena Zeltner Pavlovic (Mitwirkende)
Prof. Dr. Andreas Nehring lehrt Religions- und Missionswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Simon Wiesgickl war von 2013 bis 2016 Assistent am Lehrstuhl für Religions- und Missionswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg.
- Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.01.2022 in https://www.perlentaucher.de/buch/david-graeber-david-wengrow/anfaenge.html gesehen 31.12.2023 ↩
- Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 04.02.2022 in https://www.perlentaucher.de/buch/david-graeber-david-wengrow/anfaenge.html gesehen 31.12.2023 ↩
- Vgl. Anm 2: 607 ↩
- Detailliertere Studien zur frühen Entwicklung der wissenschaftlichen Vorgeschichte und zur Frage, wie fossile Zeugnisse und Steinwerkzeuge erstmals in diese erweiterte Chronologie des Lebens auf der Erde eingeordnet wurden, finden sich bei Schnapp 1993 und Trigger 2006. ↩
- Vgl. S. 99 ↩
- Vgl. S. 10, Postkoloniale Theologien II, https://elibrary.kohlhammer.de/book/10.17433/978-3-17-032572-2 ↩
- Vgl. den anregende Sammelband „unlearn Patriarchy“ von Lisa Jaspers, Naomi Ryland, Silvia Horch (hg), Ullstein 2023 https://www.ullstein.de/werke/unlearn-patriarchy/hardcover/9783550202193 ↩
- Bezeichnung für die Selbststeuerung der Wirtschaft über Angebot und Nachfrage auf dem Markt, die auf den englischen Nationalökonomen Adam Smith ( 1723, † 1790) zurückgeht. Nach diesem Grundbegriff der klassischen Schule der Nationalökonomie ist das Marktgeschehen eine ordnende und regulierende Kraft, die den Einzelnen dazu bringt, seine wirtschaftlichen Interessen nach bestmöglicher Bedürfnisbefriedigung zu verfolgen und dabei gleichzeitig dem Interesse der Gesellschaft nach bestmöglicher Güterversorgung zu dienen. Smith begründete diese Idee theologisch! ↩
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