Anfänge — eine neue Geschichte der Menschheit (Teil 2) Was ist zu tun?

Nach dem ersten Überblick über das epochale Werk von David Graeber und David Wengrow in ihrem Buch Anfänge“ eine neue Geschichte der Menschheit2022 auf 672 Seiten, gebe ich hier eine ausführliche Zusammenfassung (Exzerpt) der Ergebnisse und Folgerungen für unsere Arbeit und offene Aufgaben.

(4980 Worte, Lesezeit 20 Min.)

»Es gibt also keinen Ausweg aus der erfundenen Ordnung«, schreibt Yuval Noah Harari in „Eine kurze Geschichte der Menschheit“.

»Wenn wir die Gefängnismauern niederreißen, um in die Freiheit zu laufen, landen wir unweigerlich im Hof eines noch größeren Gefängnisses.«

Harari ist, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, nicht der Einzige, der zu diesem Schluss kommt. Die meisten Autoren, die Geschichte in großem Maßstab behandeln, sind offenbar zu der Ansicht gelangt, wir steckten als Spezies fest und es gebe aus unseren selbst gebauten institutionellen Käfigen wirklich kein Entkommen. Offensichtlich hat Harari also, wieder einmal in Anlehnung an Rousseau, die vorherrschende Stimmung einzufangen versucht.

Wurzeln der Kriegslogik im römischen „Recht“ – Recht ist quasi als Kriegsrecht konzipiert

Warum war es den Haushaltsvorständen (lat. „pater“) erlaubt, einzelnen seiner Sklaven jederzeit und auf jede erdenkliche Art zu vergewaltigen, zu foltern, zu verstümmeln oder sogar zu töten, ohne dass dies als etwas anderes denn als seine Privatangelegenheit betrachtet worden wäre.

Einzig und allein in der Regierungszeit des Tiberius (42 v. Chr.-37 n. Chr.: röm. Kaiser ab 13 n. Chr.) wurde gesetzlich beschränkt, was ein Herr einem Sklaven antun konnte, aber die Einschränkung lautete lediglich, der Hausherr müsse die Erlaubnis eines lokalen Magistrats einholen, wenn er einen Sklaven von wilden Tieren zerreißen lassen wollte. Alle anderen Hinrichtungsarten konnte er selbst weiterhin nach Lust und Laune verhängen und vollstrecken lassen. Einerseits waren Freiheit und Ungebundenheit also Privatsache, aber andererseits war das Privatleben geprägt von der absoluten Macht des Patriarchen über die besiegten Menschen, die als sein Privateigentum angesehen wurden.

Dass die meisten römischen Sklaven keine Kriegsgefangenen im wörtlichen Sinne waren, macht hier keinen großen Unterschied. Wichtig ist, dass ihr rechtlicher Status so definiert war. Auffallend und aufschlussreich ist für unsere Zwecke, dass das Römische Recht zutiefst geprägt ist von der Logik des Krieges, der zufolge Feinde austauschbar sind und, wenn sie sich ergeben, entweder getötet werden oder als »sozial tot« gelten und folglich als Ware verkauft werden können.

Das Potenzial für willkürliche Gewalt drang als Konsequenz aus dieser Einstellung in die intimste Sphäre sozialer Beziehungen ein – auch in die Beziehungen der Fürsorge, die das häusliche Leben überhaupt ursprünglich ermöglichen. Wenn wir uns die »Gefangene nehmenden Gesellschaften« Amazoniens oder den Prozess, durch den die dynastische Macht im Alten Ägypten Wurzeln schlug, ins Gedächtnis rufen, erkennen wir, wie wichtig diese eigentümliche Verflechtung von Gewalt und Fürsorge ist. Rom trieb diese Verflechtung zu neuen Extremen, und sein Erbe ist bis heute für unsere grundlegenden Konzepte sozialer Struktur maßgeblich.

Schon das Wort »Familie« hat in familia eine gemeinsame Wurzel mit dem lateinischen Wort famulus, das »Haussklave« bedeutet. Familia bezog sich auf alle Personen, die unter der häuslichen Autorität eines einzigen pater familias oder männlichen Haushaltsvorstands standen. Von domus, dem lateinischen Wort für Haushalt ist wiederum nicht nur das englische Wort domestic (häuslich) und das deutsche »domestizieren« abgeleitet, sondern auch das lateinische dominium – der Terminus technicus für die Souveränität des Kaisers und die Verfügungsgewalt des Bürgers über seinen Privatbesitz.

Dies führt uns zu den im Englischen vertrauten („familiar“) Vorstellungen davon, was es heißt, »dominant« zu sein und zu »dominieren«. 546

Die körperliche Straflogik

…denn laut Delâge waren im Europa des 1. Jahrhunderts fast alle Strafen einschließlich der Todesstrafe mit schweren körperlichen Qualen verbunden: das Opfer musste ein eisernes Halsband tragen, wurde ausgepeitscht, eine Hand wurde ihm abgehackt, es wurde gebrandmarkt … Strafen waren ein Ritual, das unübersehbar Macht demonstrierte und dadurch die Existenz eines inneren Krieges enthüllte. Der Souverän verkörperte eine überlegene Macht, welche die seiner Untertanen überstieg und die anzuerkennen sie gezwungen wurden … Während die kannibalischen Rituale der Indianer von dem Bedürfnis geprägt waren, sich Stärke und Mut des Fremden anzueignen, um ihn besser bekämpfen zu können, offenbarte das europäische Ritual die Existenz einer Asymmetrie, eines unwiderruflichen Ungleichgewichts der Macht.

Für die Strafaktionen der Wendat gegen Kriegsgefangene (die nicht adoptiert wurden) war es notwendig, dass die Gemeinschaft eine Einheit bildete – vereinigt durch die Fähigkeit, Gewalt auszuüben. In Frankreich dagegen war »das Volk« vereinigt, indem jeder einzelne ein potenzielles Gewaltopfer des Königs war.

Aber die Gegensätze reichen noch weiter: Wie ein reisender Wendat in Bezug auf das französische System feststellte, konnte an jedem Bürger – ob schuldig oder unschuldig – ein öffentliches Exempel statuiert werden. Bei den Wendat dagegen war die Gewalt streng aus Familie und Haushalt verbannt. Ein gefangener Krieger konnte entweder mit liebevoller Fürsorge und Zuneigung behandelt werden oder Opfer der schlimmsten vorstellbaren Behandlung werden. Einen Mittelweg gab es nicht. Bei der Opferung von Gefangenen ging es darum, die Gruppensolidarität zu stärken sowie die innere Heiligkeit der Familie und des häuslichen Bereichs als Räume weiblicher Herrschaft zu verkünden, in denen Gewalt, Politik und Herrschaft durch Befehl und Gehorsam keinen Platz hatten. Die Haushalte der Wendat waren in diametralem Gegensatz zu der römischen familia definiert.

Patriarchiale Logik im Kleinen und Großen

„… Modell der Subordination. Beide Institutionen waren nach dem Vorbild der jeweils anderen geschaffen: Die patriarchalische Familie diente nun als Vorlage für die absolute Macht der Könige und umgekehrt.“ S. 547

  • Kinder waren ihren Eltern,
  • Frauen ihren Männern und
  • Untertanen den Herrschern unterworfen,
  • deren Autorität von Gott ausging.

In jedem Fall wurde von der überlegenen Partei erwartet, strenge Strafmaßnahmen zu ergreifen, wenn sie es für angemessen hielt. Das heißt, dass sie ungestraft Gewalt ausüben durfte. All dies, so die allgemeine Annahme, war auch noch mit Gefühlen der Liebe und Zuneigung verbunden. Letztlich war der Hof des bourbonischen Monarchen, genau wie der Palast des ägyptischen Pharaos, des römischen Kaisers, des aztekischen Tlatoani oder des Sapa Inka, ein Haus der Herrschaft und auch ein Haus der Fürsorge, in dem eine kleine Armee von Höflingen Tag und Nacht daran arbeitete, sämtliche physischen Bedürfnisse des Monarchen zu befriedigen und alles Menschenmögliche tat, damit er sich nie anders als göttlich fühlte.

Bindung durch Gewalt und Fürsorge

In all diesen Fällen erstreckte sich die Bindung durch Gewalt und Fürsorge sowohl nach unten als auch nach oben. Wir könnten es nicht besser formulieren als König Jakob I. von England in The True Law of Free Monarchies (1598):

Wie es die väterliche Pflicht des Vaters ist, für die Ernährung, Erziehung und tugendhafte Leitung seiner Kinder zu sorgen, so ist auch der König verpflichtet, für alle seine Untertanen zu sorgen …

Wie der Zorn und die Zurechtweisung des Vaters gegen jedes seiner Kinder, das sich vergeht, eine väterliche, durch Mitleid gemilderte Züchtigung sein sollen, solange noch irgendeine Hoffnung auf Besserung bei ihnen besteht, so soll auch der König gegen jeden seiner Untertanen, der sich vergeht, auf diese Weise handeln … Wie die wichtigste Freude des Vaters darin bestehen sollte, für das Wohl seiner Kinder zu sorgen, sich über ihr Wohlergehen zu freuen, über ihr Übel zu trauern und Mitleid mit ihnen zu haben und sich für ihre Sicherheit einzusetzen … so sollte ein guter Fürst an sein Volk denken.

Öffentliche Folter bis 18. Jh. in Europa usus

Die öffentliche Folter im Europa des 17. Jahrhunderts brachte heftige, heute vergessene Spektakel des Schmerzes und der Qual hervor, um die Botschaft zu vermitteln, ein System, in dem Männer ihre Frauen brutal behandelten, Eltern ihre Kinder schlagen durften, sei letztlich eine Form von Liebe. Die Folter der Wendat produzierte in derselben historischen Periode unvergess-(548)|liche Spektakel des Schmerzes und der Qual, um zu demonstrieren, keine Form der Körperstrafe sollte je innerhalb einer Gemeinschaft oder einer Familie geduldet werden. Gewalt und Fürsorge waren bei den Wendat vollständig getrennt. In diesem Licht betrachtet, treten die Besonderheiten der Gefangenenfolter deutlich hervor.

Wie wir vermuten, ist die Verbindung (oder wahrscheinlich besser gesagt Verwechslung!) von Fürsorge und Herrschaft ganz entscheidend für die relevantere Frage, wie wir Menschen die Fähigkeit verloren haben, uns selbst frei neu zu schaffen, indem wir unsere Beziehungen untereinander neugestalten. Die Antwort auf diese Frage ist bedeutsam, um zu verstehen, wo wir stehen geblieben sind und warum wir uns heutzutage für unsere eigene Vergangenheit oder Zukunft kaum etwas anderes vorstellen können als einen Wechsel von kleineren in größere Käfige.

Irrtümer bei Größe und Komplexität

Die vielleicht hartnäckigsten Irrtümer, mit denen wir zu kämpfen hatten, haben mit der »Größe« zu tun. S. 548

  • Ein offenbar gängiges Vorurteil in der akademischen Welt, und nicht nur dort, besagt, eine Bevölkerung, wenn sie um ein Vielfaches wächst, brauche unvermeidlich bestimmte Herrschaftsstrukturen, also bestehe ein notwendiger Zusammenhang zwischen sozialen und räumlichen Hierarchien. Immer wieder stießen wir in Schriften auf die Annahme, das Organisationssystem einer sozialen Gruppe müsse umso »kom-(S. 549)|plexer« gewesen sein, je größer diese Organisation und je dichter besiedelt ihr Territorium war.
  • Komplexität steht bis heute oft als Synonym für Hierarchie. Hierarchie wiederum ist der Euphemismus für Befehlsketten (die »Ursprünge des Staates«). Diese Befehle aber bedeuten, dass eine große Zahl von Menschen, wenn sie beschließt, an einem Ort zu leben oder sich einem gemeinsamen Projekt anzuschließen, notwendigerweise ihre zweite Freiheit – die Freiheit, Befehle zu verweigern – aufgeben muss. Diese zweite Freiheit wird durch legale Mechanismen ersetzt, damit man Menschen, die nicht tun, was ihnen gesagt wird, beispielsweise verprügeln oder einsperren darf.

Wie wir gesehen haben, sind alle diese Annahmen theoretisch entbehrlich und werden von den historischen Zeugnissen tendenziell nicht bestätigt. Carole Crumley, eine Anthropologin und Expertin für die Eisenzeit in Europa, weist schon seit Jahren auf diesen Sachverhalt hin: Komplexe Systeme müssen weder in der natürlichen noch in der sozialen Welt von oben nach unten organisiert sein. Dass wir gewöhnlich etwas ganz anderes annehmen, sagt wahrscheinlich mehr über uns selbst aus als über die Menschen und Phänomene, die wir untersuchen. Auch ist Crumley keineswegs die Einzige, die diesen Standpunkt vertritt. S. 549

Egalitäre Verwaltung oder Politiken

Wir verfügen über keine angemessene Terminologie für diese frühen Städte. Sie als »egalitärer« zu bezeichnen, kann, wie wir gesehen haben, ganz verschiedene Bedeutungen annehmen: Es kann entweder wie bei einigen präkolumbianischen Zentren in Nord- und Südamerika auf ein Stadtparlament und koordinierte Programme des sozialen Wohnungsbaus verweisen oder wie in den prähistorischen Megastätten nördlich des Schwarzen Meeres auf die Selbstorganisation autonomer Haushalte in Nachbarschaften mit Bürgerversammlungen hindeuten und vermutlich auch wie im Mesopotamien der Uruk-Zeit auf die Einführung einer expliziten Vorstellung von Gleichheit, die auf Prinzipien der Uniformität und Gleichartigkeit beruht.

Nichts an dieser Vielfalt ist überraschend, wenn wir uns daran erinnern, was den Städten in jeder Region vorausging, nämlich keineswegs rudimentäre oder isolierte Gruppen, sondern weit verzweigte Gesellschaftsnetzwerke, die sich über verschiedene Ökologien erstreckten und zwischen denen sich Menschen, Pflanzen, Tiere, Drogen, Wertgegenstände, Lieder und Ideen unendlich raffiniert bewegten. Die einzelnen Einheiten, insbesondere zu bestimmten Jahreszeiten, waren demographisch zwar kaum bemerkbar, aber typischerweise in losen Koalitionen oder Konföderationen organisiert. S. 550

Die erste Freiheit ist: kommen und gehen können wie man will

Allermindestens folgten sie logisch unmittelbar aus unserer ersten Freiheit: der Freiheit, seine Heimat mit der Gewissheit verlassen zu können, man werde an einem weit entfernten Ort aufgenommen, versorgt und sogar geschätzt.

Bestenfalls aber waren sie Fälle von »Amphiktyonie«, dem Phänomen, dass eine formale Organisation (z. B. Städtebünde wie Delphi, Delos oder die Zwölf Stämme Israels) damit betraut wird, heilige Stätten zu pflegen und instand zu halten. Offenbar hatte Marcel Mauss nicht ganz unrecht, als er meinte, wir sollten den Begriff »Zivilisation« für solche großen Regionen der Gastfreundschaft reservieren.

Wir stellen uns »Zivilisation« gewöhnlich als etwas vor, das in Städten entsteht – aber angesichts der neuen Erkenntnisse ist es unverkennbar realistischer, die Dinge andersherum zu betrachten und sich die ersten Städte als kleinräumig komprimierte, große regionale Konföderationen vorzustellen.

Die Kernfrage

Wenn es eine herausragende Geschichte gibt, die wir erzählen sollten, eine bedeutende Frage, die wir (statt der nach den Ursprüngen sozialer Ungleichheit) an die Menschheitsgeschichte richten sollten, dann ist es genau diese:

Wie sind wir in einer einzigen Form sozialer Realität stehen geblieben, und warum sind Beziehungen, die letztlich auf Gewalt und Herrschaft beruhen, in dieser Realität normal geworden? S. 553

Der Wissenschaftler, der dieser Frage im vergangenen Jahrhundert vermutlich am nächsten kam, war der Anthropologe und Dichter Franz Baermann Steiner (1909-1952), dessen Leben faszinierend und tragisch zugleich war. Der brillante Universalgelehrte stammte aus einer jüdischen Familie in Böhmen und wohnte später bei einer arabischen Familie in Jerusalem, bis er von den britischen Behörden ausgewiesen wurde. Er betrieb Feldforschung in den Karpaten und wurde zweimal durch die Nazis gezwungen, das europäische Festland zu verlassen, weshalb er seine berufliche Laufbahn tragischerweise in Südengland beendete. Die meisten seiner nächsten Verwandten wurden in Birkenau getötet. Einer Legende zufolge hatte er ein 800-seitige monumentale Dissertation über die komparative Soziologie der Sklaverei geschrieben, doch der Koffer mit dem Manuskript und den Notizen über seine Forschungen wurde ihm auf einer Zugfahrt gestohlen. In Oxford war er mit Elias Canetti, einem weiteren jüdischen Exilanten, befreundet und wetteiferte mit ihm um die Gunst der Romanautorin Iris Murdoch. Sie akzeptierte seinen Heiratsantrag, doch er starb zwei Tage danach im Alter von nur 43 Jahren an einem Herzinfarkt.

Die kürzere Version seiner Doktorarbeit ist erhalten, und in ihrem Mittelpunkt stehen die von Steiner sogenannten »prä-servilen Institutionen«. In dem angesichts seiner Lebensgeschichte bewegenden Werk untersucht er was in verschiedenen kulturellen und historischen Situationen mit Menschen passiert, die entwurzelt werden: Personen, die wegen irgendeiner Schuld oder eines Fehlers aus ihren Clans ausgestoßen werden; Schiffbrüchige, Kriminelle, Ausreißer. Es kann als eine Geschichtserzählung über das Phänomen betrachtet werden, dass Flüchtlinge, wie Steiner selbst einer war, zunächst willkommen geheißen und fast wie Heilige behandelt, mit der Zeit jedoch, ganz ähnlich wie die Frauen in den sumerischen Tempel-Fabriken mehr und mehr degradiert und ausgebeutet wurden.… (553)

Gastfreundschaft und Asylrecht

Was passiert, fragte Steiner, wenn Normen, die Bewegungsfreiheit ermöglichen – Ideale wie Gastfreundschaft und Asylrecht, anständige Behandlung und Schutz vor Bedrohung -, an Geltung verlieren? Warum wirkt diese Entwicklung oft wie ein Katalysator für Situationen, in denen Menschen willkürliche Macht über andere ausüben können? Steiner behandelt in sorgfältiger Detailarbeit Fallbeispiele, die von den amazonischen Huitoto über die ostafrikanischen Safwa bis zu den tibeto-burmanischen Lushai reichen. 554

Dabei findet er eine mögliche Antwort auf die Frage, die Robert Lowie und später Pierre Clastres so verwirrt hatte: Wenn staatenlose Gesellschaften sich regelmäßig so organisieren, dass Häuptlinge keine Zwangsgewalt ausüben, wie sind dann Organisationsformen mit Hierarchien überhaupt in die Welt gekommen? Wie oben geschildert, kam sowohl Lowie als auch Clastres zu der gleichen Schlussfolgerung: es müsse sich um das Produkt religiöser Offenbarung gehandelt haben. Aber Baermann Steiner wies einen anderen Weg. Womöglich, meinte er, lasse sich alles auf Wohltätigkeit zurückführen.

In Amazonischen Gesellschaften fanden nicht nur Waisen, sondern auch unversorgte Witwen, psychisch Kranke und Menschen mit Behinderung oder Missbildungen Zuflucht in der Residenz des Häuptlings, wo sie an den Gemeinschaftsmahlzeiten teilnehmen durften. Dazu kamen gelegentlich Kriegsgefangene, insbesondere Kinder, die man bei Raubzügen gefangen hatte. Bei den Safwa oder Lushai hatten Ausreißer, Schuldner, Kriminelle oder andere Schutzbedürftige den gleichen Status wie Menschen, die sich im Kampf ergeben hatten. Alle wurden in das Gefolge des Häuptlings aufgenommen, und die jüngeren Männer übernahmen oft die Rolle polizeiähnlicher Befehlsempfänger. Wie viel Macht der Häuptling tatsächlich über seine Gefolgsleute hatte, unterschied sich:

Baermann Steiner benutzt den aus dem Römischen Recht stammenden Begriff potestas, der unter anderem die nahezu unbeschränkte Macht des Vaters über seine Angehörigen und deren Besitz bezeichnet. Wie stark die Macht differierte, war davon abhängig, wie mühelos seine Schutzbefohlenen weglaufen und anderswo Zuflucht finden konnten und ob sie noch gewisse Verbindungen mit ihren Verwandten, ihrem Clan oder Außenstehenden besaßen, die bereit waren, sich für sie ein-(S. 555:)|zusetzen. Ebenso unterschied sich, wie zuverlässig die Gefolgsleute den Willen des Häuptlings erfüllten. Es kam auf die schiere Leistungsfähigkeit an.

In all diesen Fällen veränderten sich, wenn einem Zuflucht gewährt wurde, die häuslichen Arrangements grundlegend, insbesondere da auch weibliche Gefangene aufgenommen wurden, wodurch sich die potestas der Väter erweiterte.

Spuren dieses Zusammenhangs lassen sich an fast allen historisch dokumentierten Königshöfen nachweisen: Diese zogen stets Menschen an, die als sonderbar oder abgesondert galten. Von China bis zu den Anden gab es offenbar keine Weltregion, in der höfische Gesellschaften nicht solche augenscheinlich andersartigen Individuen beherbergt hätten. Kaum ein Monarch, der nicht behauptete, Witwen und Waisen zu schützen. Dass sich Vergleichbares in viel früheren Geschichtsperioden auch schon in bestimmten Jäger- und Sammlergesellschaften ereignete, ist gut vorstellbar.

Die physisch eingeschränkten Personen, die man in der letzten Eiszeit so verschwenderisch bestattete, müssen als Lebende im Zentrum fürsorglicher Aufmerksamkeit gestanden haben. Zweifellos gibt es Entwicklungsphasen, die solche Praktiken mit späteren Königshöfen verbinden – wir haben Spuren davon im prädynastischen Ägypten entdeckt, sind jedoch noch nicht in der Lage, die meisten Verbindungsglieder zu rekonstruieren.

Für Steiner stand dieses Thema möglicherweise nicht im Vordergrund, aber das, was er beobachtete, ist unmittelbar relevant für Debatten über die Ursprünge des Patriarchats. Feministische Anthropologinnen vertreten schon lange die Ansicht, externe (meistens männliche) Gewalt und der familiäre Stellungswandel der Frau hingen eng zusammen. Archäologisch und historisch gesehen fangen wir gerade erst damit an, genug Material zu sammeln, um zu verstehen, wie dieser Prozess tatsächlich funktionierte.

Neue Begriffe und Konzepte erfinden

Dies bedeutete in der Praxis die Umkehrung vieler Gegensätze.

  • Es bedeutete, die Begriffe »Gleichheit« und »Ungleichheit« nur noch dann zu verwenden, wenn es am untersuchten Ort eindeutige Indizien gab, Ideologien sozialer Gleichheit hätten tatsächlich existiert.
  • Es bedeutete zu fragen, was für Folgen es hätte, wenn wir auch die 5000 Jahre der Menschheitsgeschichte berücksichtigten, in denen der Getreideanbau keine verwöhnten Aristokraten und stehende Heere und keine Schuldknechtschaft hervorbrachte, und nicht nur die 5000 Jahre, in denen er diese Folgen mit sich brachte?

Was geschieht, wenn wir die Ablehnung städtischen Lebens oder der Sklaverei zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten als etwas genauso Bedeutungsvolles behandeln, wie die Entstehung derselben Phänomene zu anderen Zeiten und an anderen Orten? S. 557

Als wir so vorgingen, wurden wir oft überrascht. Nie hätten wir vermutet, dass die Sklaverei höchstwahrscheinlich mehrmals in der Geschichte und an zahlreichen Orten abgeschafft wurde und dies sehr wahrscheinlich auch für den Krieg gilt.

Leider ist die Abschaffung solcher Phänomene offenbar selten endgültig. Dennoch sind die Zeiträume, in denen vergleichsweise freie Gesellschaften existierten, nicht unbedeutend. Klammert man, was wir zweifellos getan haben, das eurasische Eiserne Zeitalter hier aus, sind diese freien Gesellschaften durchaus repräsentativ für den weitaus größten Teil der sozialen Erfahrung der Menschheit.

Gesellschaftstheoretiker tendieren dazu, über die Vergangenheit zu schreiben, als hatte alles vorhergesagt werden können, was sich auch wirklich ereignet hat. Dies ist ein bisschen unehrlich, denn wir wissen alle, dass wir fast immer falsch liegen, wenn wir versuchen, die Zukunft vorherzusagen, und dass dies keineswegs nur für Gesellschaftstheoretiker gilt. Dennoch kann man der Versuchung kaum widerstehen, so zu schreiben und zu denken, als wäre der gegenwärtige Zustand der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts das unvermeidliche Ergebnis der vergangenen 10.000 Jahre Geschichte, obwohl man in Wirklichkeit natürlich kaum eine oder gar keine Ahnung hat, wie die Welt im Jahr 2075, geschweige denn im Jahr 2150 aussehen wird. S. 557

Re-gnose …

Wer weiß? Womöglich werden wir, wenn unsere Spezies überlebt, eines Tages auf diese heute noch unvorhersehbare Zukunft zurückblicken und Aspekte der fernen Vergangenheit, die heute wie Anomalien wirken –

  • Bürokratien, die im Gemeindemaßstab arbeiten;
  • Städte, die von Nachbarschaftsräten regiert werden;
  • Regierungssysteme, in denen Frauen eine Mehrheit der offiziellen Posten bekleiden;
  • Formen der Landverwaltung, die eher auf Pflege als auf Besitz und Ausbeutung beruhen –,

als die wirklich bedeutenden Durchbrüche erkennen und große Steinpyramiden oder Statuen eher für historische Kuriositäten halten. Wie wäre es, wenn wir diesen Ansatz jetzt schon wählten und das minoische Kreta oder Hopewell nicht mehr nur als zufällige Schlaglöcher auf einem Weg betrachteten, der unvermeidlich zur Bildung von Staaten und Imperien führt, sondern als alternative Möglichkeiten, als Wege, die wir nicht eingeschlagen haben?

Diese Dinge hat es schließlich wirklich gegeben, auch wenn unser gewohnter Blick auf die Vergangenheit sie offenbar eher an den Rand als ins Zentrum rückt. Ein Großteil dieses Buches widmete sich der Neukalibrierung solcher Maßstäbe, um uns daran zu erinnern, Menschen haben tatsächlich viele Jahrhunderte und sogar Jahrtausende auf diese Art gelebt.

In mancher Hinsicht mag die neue Perspektive sogar noch tragischer erscheinen als unsere bisherige Standarderzählung von der Zivilisation als unvermeidlichem Sündenfall. Sie bedeutet, wir hätten mit radikal anderen Konzeptionen von dem, was die menschliche Gesellschaft eigentlich ausmacht, leben können. Sie bedeutet, Massenversklavung, Völkermord, Straflager, ja sogar das Patriarchat oder die Produktion durch Lohnarbeit hätte niemals geschehen müssen. Andererseits jedoch lässt sie auch vermuten, die Möglichkeiten menschlichen Eingreifens seien auch heute noch weitaus größer, als wir zu denken geneigt sind. (S. 557f)

Der Kairos – nuPerspective Metamorphose

Wir haben dieses Buch mit einem Zitat begonnen, das sich auf den griechischen Begriff kairos als einen der seltenen Momente in der Geschichte einer Gesellschaft bezieht, da sich deren Bezugsrahmen verschieben. Nach dieser Verschiebung findet eine Metamorphose der grundlegenden Prinzipien und Symbole statt, in der die Grenzen zwischen Mythos und Geschichte, Wissenschaft und Magie verschwimmen und wirkliche Veränderung möglich wird Philosophen sprechen gern von »dem Ereignis« – einer politischen Revolution, einer wissenschaftlichen Entdeckung, einem künstlerischen Meisterwerk –, also einem Durchbruch, der Aspekte der Realität sichtbar macht, die zuvor unvorstellbar waren, aber, einmal erblickt, nie mehr übersehen werden können. Wenn dem so ist, dann ist kairos die Zeit, in der ein solches »Ereignis« gewöhnlich geschieht. (558)

Der kairos-Punkt

Weltweit scheinen Gesellschaften rasant auf einen solchen Punkt zuzusteuern. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die sich seit dem Ersten Weltkrieg »westlich« zu nennen pflegen. Einerseits treten allem Anschein nach in den Naturwissenschaften und sogar im künstlerischen Ausdruck die fundamentalen Durchbrüche nicht mehr mit der Regelmäßigkeit auf, an die sich die Menschen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gewöhnt hatten.

Gleichzeitig jedoch haben sich die wissenschaftlichen Mittel für das Verständnis der Vergangenheit – und zwar nicht nur der Vergangenheit unserer Gattung, sondern der des gesamten Planeten – mit schwindelerregender Geschwindigkeit weiterentwickelt. Wissenschaftler des Jahres 2020 stoßen nicht (wie die Leser von Science-Fiction-Romanen Mitte des 20. Jahrhunderts vielleicht noch hofften) auf außerirdische Zivilisationen in fernen Sternsystemen, aber sie entdecken radikal neue Gesellschaftsformen unter ihren eigenen Füßen, manche vergessen und neu entdeckt, andere vertrauter, aber heute ganz anders und völlig neu verstanden.

Unsere dritte Grundfreiheit: neue und andere Formen sozialer Realität zu schaffen

Indem wir die wissenschaftlichen Mittel entwickeln, um unsere eigene Vergangenheit kennenzulernen, legen wir den mythischen Unterbau unserer »Sozialwissenschaften« frei. Axiome, die einst als unanfechtbar galten, als die festen Punkte, auf denen unsere Selbsterkenntnis baut, zerstieben wie ein Haufen Mäuse. Was ist der Zweck all dieses neuen Wissens, wenn nicht eine Neugestaltung der Vorstellungen, die wir von uns selbst und unserer künftigen Entwicklung haben?

Oder anders ausgedrückt, die Wiederentdeckung unserer dritten Grundfreiheit: der Freiheit, neue und andere Formen sozialer Realität zu schaffen?

Der Mythos als solcher ist hier nicht das Problem. Man sollte ihn nicht mit schlechter oder infantiler Wissenschaft verwechseln. Wie alle Gesellschaften über ihre Wissenschaft verfügen, so verfügen auch alle über ihre Mythen. Durch den Mythos geben menschliche Gesellschaften ihren Erfahrungen Struktur und Bedeutung. Doch die größeren mythischen Strukturen der Geschichte, die wir in den vergangenen Jahrhunderten verwendet haben, funktionieren einfach nicht mehr; sie sind mit den Zeugnissen, die uns heute vorliegen, überhaupt nicht mehr vereinbar, und die Strukturen und Bedeutungen, die sie fördern, sind geschmacklos und abgenutzt und politisch katastrophal.

Zweifellos wird sich, zumindest für eine Weile, noch sehr wenig ändern. Ganze Wissensgebiete, von Lehrstühlen und Fakultäten, wissenschaftlichen Zeitschriften, prestigeträchtigen Forschungsstipendien, Bibliotheken, Datenbanken, Schullehrplänen und dergleichen ganz zu schweigen, sind so konzi-(S. 560)|piert, dass sie zu den alten Strukturen und den alten Fragen passen.

Max Planck sagte einmal:

Neue wissenschaftliche Wahrheiten ersetzten die alten nicht dadurch, dass etablierte Wissenschaftler ihre Irrtümer einsehen, sondern dadurch, dass die Vertreter der älteren Theorie am Ende sterben und die neue Generation die neuen Wahrheiten und Theorien als vertraut und sogar als offensichtlich empfindet.

Wir sind Optimisten. Wir glauben daran, dass es nicht so lange dauern wird. Tatsächlich haben wir schon einen ersten Schritt gemacht. Wir sehen heute klarer, was passiert, wenn zum Beispiel eine Studie, die in jeder anderen Hinsicht wissenschaftlich streng ist, von der Annahme ausgeht, es habe irgendeine »ursprüngliche« Form der menschlichen Gesellschaft gegeben;

  • diese sei entweder grundsätzlich gut oder grundsätzlich böse gewesen;
  • es habe eine Zeit vor Ungleichheit und politischem Bewusstsein gegeben;
  • es sei etwas geschehen, durch das sich all dies änderte;
  • »Zivilisation« und »Komplexität« würden immer auf Kosten menschlicher Freiheiten gehen;
  • partizipatorische Demokratie für kleine Gruppen sei natürlich, aber unmöglich auf eine Großstadt oder einen Nationalstaat zu übertragen.

Wir wissen inzwischen, dass wir es hier mit Mythen zu tun haben. (559)

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Mein (Helge) Kommentar und Resume für den nuPerspective-metamoderne-Prozess

Das tut gut: Unsere nuPerspective-Brille ist diesen Erkenntnissen gegenüber also höchst anschlussfähig weil Teil dieser „neuen“ Aufklärung über die Mythen eines imperialen (römisch-)westlichen Zeitalters, das sich gerade ad absurdum führt…

Statt als logische zivilisatorische Menschheitsleistung gefeiert (und mit den zu ertragenden Nebenwirkungen der gewaltsamen top-down-Herrschaft) zu werden, enthüllen die beiden Davids eine neue modellhafte Logik von Zivilisation, die der bisher verachteten „dunklen Zwischenzeiten“.

Auf dieser Basis ist auch eine postkoloniale Theologie klarsichtiger zu konstruieren, weil sie die aktuellen Ergebnisse der Archäologie und (bestimmter) Ethnologien ernst nimmt und durch neue (anti-evolutionäre Deutungsmuster) bereit ist. die eigenen Aufstiegs-/Fortschrittslogiken (teleologischen Vorannahmen) zu hinterfragen:

Die Muster der bisherigen theologischen Deutung sind z.B. so zu überwinden:

  • Die Geschichte Israels und die damit verbundenen Rekonstruktionen von „Volk“ und „Königtum“ (mit den Learnings von Steinzeit zu Bronzezeit usw.) noch einmal geschärft lesen (auch im Gegenüber zur damaligen Umwelt und deren „Königtums-Logiken“). Damit wird der atl. Streit um das Königtum zum Schlüsselmoment im neuen Licht (worum haben sie da wirklich gerungen?)… Die sozialgeschichtliche Hermeneutik von Crüsemann (Tora) / feministische Lesarten helfen hier sehr, eine historisch-kritische Tiefensicht zu rekonstruieren.
  • Die „Reich Gottes“-Metapher muss konsequent apokalyptisch-historisch (fremd) wahrgenommen werden (weil die aufklärerische Brille, mit der wir sie üblicherweise als „Eschatologie“ lesen leider die antike Intention unterschlägt, sie als das Kampf mit den damaligen politischen Reichen zu verstehen.) Durch die 19.-Jh.- Logik, die im christentümlichen Horizont diese Rettungsankündigung für die jüdische Nahzukunft (im imperialen Kontext wird es politisch Befreiung geben) universalisiert und so auf die gesamte Weltgeschichte/Menschheitsgeschichte ausdehnt, was ursprünglich nicht beabsichtigt war (= Perrimans Verdienst, hier Klarheit zu geben).
  • Die Funktion der Neuinterpretation der „Reich Gottes-Erwartung“ des 19. Jh. Wird hiermit noch klarer: Sicher unterstützt diese Lesart, dass das Change-Anliegen der Aufklärung aufgenommen wird: nämlich die Sehnsucht/Hoffnung der prozesshaften „Verbesserung des Menschengeschlechts“ (Lessing). Durch die bleibende Rahmenstory der unrettbar „sündhaften“ Menschheit (bis zu deren jenseitigen Erlösungstag) fixiert sie aber trotzdem weiterhin das konservativ/reaktionäre römisch-hierarchische Christentumsverständnis (eben als unauflösbares „Hierarchisches Herrschaftsverhältnis“). Diese „mythologische“ Logik haben die beiden Davids als unsere „Fixierung“ aufgedeckt. (Wir können auch anders :-).
  • Theologiegeschichtlich kann damit endlich der (übrigens nicht textgemäße!) Mythos der Ursünde im Paradies mit aufgegeben werden (die Aufklärung blieb mit ihrem Narrativ dieser Gesamtsicht verhaftet). Der textlich besser gestützte Mythos ist der, dass der Fall in der Ur-Sünde der Gewaltgeschichte der Menschheit (Gen. 4-11) besteht, auf die Gott mit der Sintflut/Abrahams-Story reagiert. Welche neue Einbettung der Urgeschichte der Bibel in diese neue Perspektive (unter Aufgabe des imperialen/augustinischen Erbsünden-Erlösungs-Mythos) unterstützt die neue Lesart der „Geschichte der Menschheit“?

Der heutige politische Kampf um die Durchsetzung der „Demokratie“ als Spitze des zivilisatorischen Menschheitsleistung wird durch die neue Lesart der Menschheitsgeschichte nicht mehr als Fortschrittsgeschichte, sondern als ständig miteinander streitende ideologische Auseinandersetzung zwischen demokratischen, plurikratischen, oligarischen oder autokratischen Systemen markiert. Denn „die Demokratie“ gab/gibt es nicht. Aber vielfältige Versuche, menschliche Sozialordnungen zu konstruieren. Wir erleben unsere Nahvergangenheit neu (eben nicht unbedingt als „Spitze“ der Menschheitsstory).

Selbst die 4000-6000 jährige „Zivilisationsgeschichte“ muss sich dem Vergleich kreativer und innovativer 30.000-100.000jähriger Menschheitserfahrungen und Learnings stellen. Die westliche Arroganz kippt im Vergleich mit den indigenen Kultur-Errungenschaften Amerikas. Hier ist der postkoloniale Hebel sehr klar. Die Botschaft lautet: die westliche Epoche der Aufklärung ist kein ursprünglich antichristlicher Impuls: Vernunft gegen Glaube! Sondern sie ist durch Besuche amerikanischer Indigener in Paris inspiriert von der indigenen Weisheit jahrtausendealter kreativer „egalitär-demokratischer“ anti-autokratischer Gesellschaftsformen.

Sicherlich: insofern das Christentum diese autokratisch-hierarchische Logik der römischen Antike übernommen hatte, war die „demokratische“ Opposition auch anti-christlich gerichtet. Denn solange das Gott Top-Down als theologische Schlüssel-Logik bleibt und damit eine paternalistische Gesellschaftsordnung legitimiert, gibt es kein Entrinnen aus der „imperial- Logik“.

Die neue Frage ist also: Wie müssen/können wir Gott „demokratisch“ legitimierend denken? Und welche Elemente der vor-imperialen biblischen Tradition könnten diese Lesart Gottes unterstreichen? Selbst moderne komplex-Paradox-Verpackungen der Inkarnationsidee: Gott sei zugleich im Schwachen und Starken trinitarisch gesehen, konnten diese Wende zu demokratischen Gesellschaftsordnungen nicht herbeiführen, vielleicht aber unterstützen.

Der JHWH-Glaube Israels grenzt sich ja gegen die umgebenden Völker kulturell-politisch ab. Das Konzept einer „göttlichen Weisung“, die besser und gerechter als die der Nachbarvölker zu sein behauptet ist ja expliziter Ausdruck dieser jüdischen Schismogenese (Anders-als-die-Nachbarn-Identität1).

  • Wäre die „unvergleichlich weise“ Tora GTTes (Deut. 4, 6) ein Modell einer besseren Gesellschaftsordnung auch für heutige Christen?
  • Und wenn ja, wie müssen wir die Tora nach 3000 Jahre Abstand auf dem Wissenshintergrund einer post-römischen, post-kolonial entmythologisierten „Geschichte der Menschheit“ (a la Graeber/Wengrow) reformulieren?
  • Könnte also eine Tora-Orientierung (postkolonial gelesen!) uns orientierend helfen? Crüsemann hat das wohl versucht. Wie kann dieser Versuch aber bessere theologische Rahmenbedingungen bekommen?
  • Welche Impulse gibt die neue Menschheits-Geschichte für Spiritualität?
  • Welche (bessere?) Argumentationshilfe bekommt eine „earthiest“-Spiritualität?
  • Könnten (saisonale) Rituale Spielräume sein, um sich die Flexibilität in der sozialen Organisationsform zu erhalten?

Auf jeden Fall dekonstruiert diese Story die imperiale Zivilisierungsidee: Wir bringen das beste der Menschheit an alle Zurückgeblieben … Die höchst kontextuellen und wechselwirkenden Gesellschaftskonzeptionen (immer inklusiv auch deren Mythen/Theologien) werden als Denkbefreiung wirksam: „Wir können auch anders“ bekommt geschichtliche/urzeitliche Modelle. Damit befreien wir uns von den „bloßen Utopien“ und argumentieren: Das gab es schon einmal in der Menschheitsgeschichte, es geht auch anders. Unsere eigenen Spiritualität bekommt einen höchst kontextuellen Rahmen (2000-jährige römisches Reich-Denke), die meiste Zeit der Geschichte waren Gesellschaften und deren Mythen anders, bunter und interessanter … Lasst uns lernbereit bleiben!

  1. Eine wundervolle Erklärung für große soziale Verschiedenheiten auf engsten (nachbarschaftlichen) Raum

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