Wie kann Dekonstruktion alter heiliger Texte gelingen?
Dies ist eine allgemeinverständlicher Version. Eine wissenschaftliche Version dieses Textes findest du hier.
Es ist längst klar geworden, dass die wörtliche Interpretation der Heiligen Schriften mehr Probleme als Lösungen hervorbringt, spätestens seit der Debatte um Rudolf Bultmann ab 1941 (siehe unten).
Erst in den späten 90er Jahren, mit dem Aufkommen der internationalen emergenten Diskussion, wurde das postmoderne Konzept der Dekonstruktion1 unserer großen Erzählungen, wie zum Beispiel der Geschichte von „Adam & Eva über Jesus zur Erlösung“, bekannt.
Dieses Konzept ist mittlerweile im breiten Bewusstsein und auch bei den Postevangelikalen angekommen.
In der Diskussion von „Hossa Talk“ z. B. ab Min. 59 wurde die Frage aufgeworfen, ob es nach der Dekonstruktion eine zweite Naivität geben kann. Es wurde die Idee des „Als ob“ vorgestellt, also zu glauben „als ob es stimmen könnte“. Es bleibt jedoch unklar, wie diese zweite Naivität gefüllt wird, da es sehr unterschiedliche Ansichten dazu gibt.
Das Wort „zweite Naivität“ taugt also als ein guter Begriff, der er viele verschiedene Wege zum Ziel beinhalten kann.
Der Modernitäts-Schock
Im Jahr 1941 eröffnete der Neutestamentler Rudolf Bultmann mit provokanten Sätzen den Streit über die sogenannte Entmythologisierung. Dieser Streit hat zu verschiedenen Lesarten geführt, darunter — neben der historisch-kritischen — befreiungstheologische, feministische, mystisch-meditative, symboldidaktische, postkoloniale, postevangelikal-emergente und nun auch unsere, die historisch-narrative Lesart.
Bultmanns Aussage, dass man nicht gleichzeitig moderne Technologien und medizinische Mittel nutzen und an die Wunderwelt des Neuen Testaments glauben könne, führte zu erbitterten Debatten. Seine „Entmythologisierung“ des Neuen Testamentes war das zentrale Thema dieses Streits.
Man versteht, dass Bultmann angesichts der deutlich wahrgenommenen Spannung zwischen Vormoderne (antik-mythischem Weltbild) und Moderne (oder Spätmoderne mit dem materialistisch-wissenschaftlichen Weltbild) zu einer Lösung finden musste. Sein ihm naheliegender Lösungsansatz, die biblischen Texte zu entmythologisieren, den Blick freimachen vom anstößigen Mythos für das, was die Texte im Kern auch dem heutigen Menschen noch oder wieder sagen können, wenn sie von ihrer antiken mythischen Verkleidung befreit werden. Bultmann versucht es mit der Methode der sogenannten „existentialen Interpretation“ des neuen Testamentes. Die können wir hier nicht weiter analysieren oder bewerten.
Welche Lösung bietet der Begriff „zweite Naivität“ uns an?
Ich möchte mich angeregt von Prof. Joachim Nagel direkt auf jenes spannende Stichwort fokussieren, das im Zusammenhang der bis heute umstrittenen Dekonstruktionen (z. B. auch die Entmythologisierung) auftauchte.
Die „Zweite Naivität“ ist ein Begriff, der in theologischen und religionspädagogischen Kreisen gerne verwendet wird. Er wurde von dem französischen Philosophen Paul Ricœur in die Debatte eingeführt, die damals von Bultmann angestoßen wurde. Es scheint, als könnte dieser Begriff die ungelösten Probleme der Entmythologisierung ohne weiteres lösen. Aber was bedeutet eigentlich „Zweite Naivität“? Ist damit gemeint, dass man die konkreten und anstößigen Teile der biblischen Erzählungen eliminieren kann, um dann den kindlichen Glauben an Adam und Eva im Paradies, an die Jungfrau im Kämmerlein und die Hirten auf dem Felde doch noch zu bewahren? Im Allgemeinen wird die „Zweite Naivität“ als die angemessene Glaubenshaltung eines erwachsenen Menschen beschrieben, die trotz aller Zweifel und Fragen der Moderne zu einer neuen, selbstreflektierten Glaubenshaltung gelangt ist, nach der vorkritischen Unmittelbarkeit des Glaubens also zu einer Weise des Glaubens, in der die kritischen Zweifel ihren Platz behalten.
Aber wie gelangt man zu einer solchen Glaubenshaltung? Und welchen Preis hat die Theologie zu bezahlen, sobald sie einmal begonnen hat, sich um den Gewinn einer solchen „Zweiten Naivität“ zu bemühen? Was verlieren wir oder müssen wir also aufgeben?
Ich fasse jetzt kurz zusammen, was in der 30seitigen Vorlesung von Joachim Nagel, einem katholischen Professor an der Universität Freiburg (Schweiz), an spannenden Informationen zusammengetragen wurde. Er verweist auf den Urheber des Begriffs in den 1925er Jahren, den Religionsphilosophen Peter Wust (1884–1940) und dann den jüdischen Reformpädagogen Ernst Simon (1899–1988), bevor er auf die Füllung durch Paul Ricœurs zu sprechen kommt.
Peter WUST, spricht in seinem Werk „Naivität und Pietät“ als erster von der Zweiten Naivität. Diese bezeichnet für ihn die Haltung einer Person, die trotzdem glaubt, jedoch nicht aus verkrampftem Trotz, sondern aus einer weisheitlichen Haltung fragend-staunender, mitunter schüchtern-humorvoller, immer aber auch dankbarer Verwunderung über diese seltsame, uns unbefragt auferlegte Existenz. Diese ausgearbeitete Gestalt seinsbejahender Naivität führt zu einer Haltung der „frommen Verehrung des Unerforschlichen“, die ihre reinste und wohl auch schönste Form in der „docta ignorantia“ des Nikolaus Cusanus findet, in einer (auch über sich selbst) „belehrten Unwissenheit“.
Seine Kurze Definition lautet so:
„Zweite Naivität – das wäre die dem Leben abgerungene und insofern erlittene, zugleich aber in ein leises Vertrauen hineinverwandelte Haltung des erwachsenen Menschen gegenüber dem Leben und seinen unlösbaren Rätseln, ein frommes Äquilibrium von Skepsis und wiedergewonnener Seins.“
WUST betont, dass in dieser Haltung die großen Fragen zwar nicht einfach gelöst sind, aber doch zur Ruhe gefunden haben.
Eine „Zweite Naivität“ trägt für ihn ein mystisches Moment in sich, das sich nur erfahren, aber nicht erklären lässt. Auch ist sie sich ihrer Vorläufigkeit bewusst, weshalb man sich immer wieder neu um sie bemühen muss. Es bleibt also ein ständiges Ringen um die zweite Naivität.
Das Spannende an dieser Zielbeschreibung ist, dass sie für verschiedene kritisch Suchende formuliert ist, die im Kopf zwischen Ansichten der modernen Aufklärung und denen der traditionellen Spiritualität heiliger Texte hin und her schwanken. Selbst wenn in den folgenden Jahrzehnten unterschiedliche „kritische Brillen“ angelegt oder verschiedene Perspektiven und philosophisch-wissenschaftliche Vorannahmen vorausgesetzt wurden, um diese Spannung zu bewältigen. So passt diese Zielbeschreibung von 1925 auch zu unserem aktuellen Postchristentums Weg. Unser Weg ist vielleicht radikaler als viele kritische Vorgänger, weil wir den christentümlichen Rahmen verlassen wollen, um die Aufklärung selbst zu dekonstruieren und einen neuen geschichtlichen Zugang zu den heiligen Schriften und ihren kontextuellen Wahrheiten zu bahnen.
Die Schlüsselfrage bleibt für alle Suchenden aber immer gleich: Was können die Texte (mit welcher Methode auch immer) dem heutigen Menschen noch – oder besser: wieder – sagen? Und was nicht?
Prof Negel analysiert die Begriffsgeschichte ab den 1925er Jahren und zeigt, wie unterschiedliche philosophische und exegetische Vorannahmen diesen Begriffsinhalt prägen beispielhaft an Wust, Simon und Ricœur. Wenn dir die bisherigen Gedanken ausreichen, hast du auf jeden Fall mitgenommen, welchen Preis diese Theologie zahlt:
Es ist jeweils ein anstrengender Weg der Liebe zum modernen Zweifel hin zu einem aufgeklärten Glauben, der Spannungen und Zweifel aushält und nicht mehr bekämpfen muss.
Willst du weiterlesen? Dann jetzt mehr zu den Details dieses spannenden Kofferwortes:
Narrative Strukturen der Symboldidaktik
Die Symboldidaktik, angeregt von Ricœur z. B. befasst sich mit der symbolischen Bedeutung heiliger Texte. Es geht darum, nicht nur die Geschichten selbst zu erzählen, sondern auch auch deren Erzähltwerden (wozu sie erzählt wird).
- Zuerst werden die Texte einer historisch-kritischen Analyse unterzogen, um ihren möglichen historischen Gehalt zu untersuchen.
- Danach werden die gleichen Geschichten noch einmal gelesen, diesmal jedoch als ob sie wahr wären. Dieser Ansatz wird als „zweite Naivität“ bezeichnet. Dabei werden Fragen nach historischer Genauigkeit nicht mehr berücksichtigt.
- Das Ergebnis ist, dass viele biblische Geschichten, die historisch betrachtet nicht korrekt sind, theologisch aber relevant werden.
Die „zweite Naivität“ beschreibt hier also eine hermeneutische Perspektive, bei der die Texte im Hinblick auf ihre symbolische Bedeutung interpretiert werden, um zu ihrem poetischen Kern vorzudringen.
Narrative Strukturen unserer historisch-narrativen Exegese
Wir bei nuPerspctive.de stimmen nun in der historisch-narrativen Lesart auch dem zu, nicht nur die Geschichte selbst zu erzählen, sondern zu verstehen, wozu sie erzählt wird.
- Wir verknüpfen die Reflexion über das Erzähltwerden mit der Gruppe, die die Geschichte überliefert hat, und deren Adressaten (das Volk Israel im 1. Jahrhundert nach Chr., also eine jüdische Perspektive und deren Lebenswelt).
- Wir interpretieren die Aussagen, die in ihrer Lebenswelt sinnvoll sind, anhand ihrer Erzählungen und der jüdischen Bedeutungen.
- Allerdings versuchen wir nicht, die Symbolwelt, die für uns heutige nicht mehr gültig ist, theologisch oder symbolisch weiter zu erschließen, sondern im Gegenteil: wir beobachten die damalige historische Realität, die diese Symbolwelten beeinflusst oder erzeugt haben. Zum Beispiel den imperialen Umsturz im Imperium Romanum 313 n. Chr. durch den Gott Israels und seinen Messias Jesus.
Das Narrativ der Christen wurde über 3 Jahrhunderte von Verfolgung, Leiden und Martyrium geprägt. Es stellt sich dann die Frage, wie dieses Narrativ bis zu uns gelangt ist und welche ähnlichen Erzählmuster für uns Sinn heute machen könnten.
Sehnsucht nach Erlösung als Ursprung einer neuen, zweiten Naivität: Ernst Simon
Der jüdische Reformpädagoge Ernst Simon hat sich mit dem Konzept der „Zweiten Naivität“ 1931 auseinandergesetzt. Der Begriff wurde von ihm erstmals in einem Aufsatz zur Idee eines „Freien Jüdischen Lehrhauses“ verwendet, das von Franz Rosenzweig propagiert wurde. Rosenzweig wollte dem assimilierten deutschen Judentum in Frankfurt einen neuen Zugang zur Tradition eröffnen, der jedoch kritisch-reflektiert sein sollte. Simon betonte, dass der Glaube trotz aller Widerstände kein fester Besitz ist und Bruchstellen und Glaubenszweifel immer präsent sind. Die „Zweite Naivität“ bedeutet für ihn, diese Bruchstellen in einer reflektierten Lebenspraxis immer wieder zu überwinden. Simon war sich bewusst, dass dies nicht nur in der säkularen Welt, sondern auch für sie gelten muss. Er hatte also ein Interesse, dieses Wissen zu vermitteln. Er war der Meinung, dass die Frage „What can modern man believe?“ nur befriedigend beantwortet werden kann, wenn man sich auf die Situation einer säkular gewordenen Welt radikal einlässt.
Die Hauptfrage ist nicht, was ein aufgeklärter Mensch „noch“ glauben kann, was mit einem modernen Bewusstsein vereinbar ist und was er von der biblischen Botschaft akzeptieren kann. Vielmehr ist für Simon der Brennpunkt eine »religiöse Umkehr.« Eine solche 2. Umkehr (μετάνοια/conversio) bedeutet für Menschen in ihrer religiösen Identität sich unsicher wurden in der Regel erst einmal, sich von lieb gewonnenen Glaubensvorstellungen zu verabschieden. Aber dieser Verlust kann den Beginn eines neuen religiösen Glaubens bedeuten, wenn man ihn im Vertrauen auf das größere Geheimnis Gottes überschreitet. Dieser neue Glaube zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass er Raum für Zweifel lässt.
Der Mensch kann die biblisch-messianische Hoffnungsperspektive im Sinne einer kritischen Erlösungshoffnung ergreifen (selbst trotz Entmythologisierung), und damit einen unverzichtbaren Dienst für die Welt leisten. Denn Politik steht unter den Forderungen ihrer hektischen Tagesgeschäfte, aber der Mensch der zweiten Naivität repräsentiert den Maßstab der ferneren Zukunft.
Sowohl Wust als auch Simon glauben, dass die schmerzliche Erfahrung der Fragwürdigkeit aller Glaubensgewissheit und die sehnsuchtsvoll vorweg genommene Hoffnung auf eine letzte Erlösung zu einer neuen Form religiöser Erfahrung führen können, sei es in der sehnsuchtsvollen Gestalt kritischer Erlösungshoffnung oder in der frommen Wissensruhe der cusanischen „docta ignorantia“.
Während Wust einer existentiell-personalistischen Metaphysik zuneigt (dualistisch-platonisch), hat Ernst Simon durch Martin Buber inspiriert ein Konzept dialogisch orientierter Erwachsenenbildung entwickelt, dessen ethisch-religiöse Grundlage in einem jüdischen Humanismus liegt.
Zusammenfassung von Paul Ricœur: „Das Symbol gibt zu denken“
In seinem Vorschlag zur zweiten Naivität beschäftigt sich Paul Ricœur mit dem Konzept der „Symbolhermeneutik“ als einem performativen Entdeckungsvorgang, um die „poietische Wahrheit“ zu verstehen. Er argumentiert, dass die zweite Naivität durch eine Phänomenologie verstanden werden kann, die er als „Symbolhermeneutik“ bezeichnet. Seine Herangehensweise beinhaltet, die biblischen Texte als wahr zu behandeln, obwohl sie historisch-kritisch analysiert nicht „wirklich“ passiert erscheinen. Im Gegenteil, durch die „Als-Ob-Perspektive“ offenbaren viele biblische Texte nach seiner Lesart eine verborgene Tiefenstruktur, die von Ricœur als „symbolisch“ bezeichnet wird. Seine Maxime „Le symbole donne à penser“ wird zur Leitlinie seiner Interpretation biblischer Texte. Ricœur hat diesen performativen2 Vorgang an den biblischen Symbolen der Schuld und des Bösen demonstriert. Walter Wink hat später in seiner Trilogie zu den „Mächten“ im Alten und Neuen Testament darauf Bezug genommen. Vgl. z.B, eine Rezension zu Wink.
- Caputo sagt u.a. „Dekonstruktion ist nicht Destruktion. Es geht gerade nicht um die negative Zerstörung von Sinn, sondern um eine immer auch konstruktive Bewegung hin zu tieferer Wahrheitserkenntnis.“ Dietz kommentiert das so: „Insofern ist die Dekonstruktion der Kirche gerade kein Angriff auf die Kirche, sondern Dienst an ihrer Befreiung: Befreiung von den Verkürzungen und Entstellungen ihres Zeugnisses.“
Oder auch hier: De-/Re-Konstruktion. Von Markus, einem Ex-ICF Pastor www.santablacksheep.com ↩ - eine mit einer sprachlichen Äußerung beschriebene Handlung zugleich vollziehend (z. B. ich gratuliere dir) ↩