Die Dynamik eines Paradigmenwechsels von einer Epoche zu einer neuen, anderen hat Thomas S. Kuhn erforscht. Er kann damit die Umbruchslogiken auf eine Metaebene darstellen am Beispiel wissenschaftlicher Revolutionen.
Erst wenn über einen längeren Zeitraum hinweg an zentralen Stellen Probleme aufgetreten sind oder überraschende Entdeckungen gemacht worden sind, beginnt die Phase der außerordentlichen Wissenschaft. In ihr wird auch wieder über die Grundlagen selbst diskutiert. Eine solche Krise kann zu einem Paradigmenwechsel führen, bei dem das Paradigma der Disziplin verworfen und durch ein anderes ersetzt wird.
Und in einer solchen Krise befinden wir uns heute. Es ist so, als würde eine alte Welt zerbrechen und eine ganz neue, metamoderne aus den Trümmern der Moderne entstehen...
Kurzbiografie der deutschen Wikipedia zu Thomas S. Kuhn:
- Kuhn nahm 1956 eine Stelle als Assistenzprofessor für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte in Berkeley an,
- einige Jahre später wurde er zum ordentlichen Professor für Wissenschaftsgeschichte berufen. In Berkeley verfasste er unter anderem sein Hauptwerk The Structure of Scientific Revolutions (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen).
- Dort beschreibt Kuhn die Wissenschaft als eine Folge von Phasen der Normalwissenschaft, unterbrochen von wissenschaftlichen Revolutionen.
- Ein zentrales Konzept ist hierbei das Paradigma; ein Paradigmenwechsel sei eine wissenschaftliche Revolution. Das Verhältnis von Paradigmen, zwischen denen eine Revolution liegt, bezeichnet Kuhn als inkommensurabel, was hier bedeutet: nicht mit dem gleichen (begrifflichen) Maß messbar.
Kuhn geht davon aus, dass nur innerhalb eines bestimmten Paradigmas einzelne wissenschaftliche Theorien und Hypothesen hinsichtlich ihrer Erklärungskraft überprüft und verglichen werden können (sogenannte Inkommensurabilitätsthese).
Entwicklung des Paradigmenbegriffs bei Kuhn
In The Structure of Scientific Revolutions erhalten Paradigmen zusätzlich eine globale Bedeutung: Nahezu alles, worüber in der Wissenschaft Konsens besteht, ist paradigmatisch. Gemäß dieser Begriffsausweitung können unter anderem auch ganze Theorien paradigmatisch sein.
Kuhn wurde in den Folgejahren für diese philosophisch nicht unproblematische Aufweichung des Paradigmenbegriffes oft kritisiert. Allerdings ist die Allgemeinheit des Paradigmenbegriffs von Kuhn beabsichtigt. Dadurch vermeidet er im Gegensatz zu Karl Popper die methodologische Festlegung auf das, was Wissenschaft ist oder sein soll. Denndiese Festlegung erfolgt nur im Rahmen des Paradigmas selbst. Damit ist die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Metaphysik wie auch die zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang hinfällig.1
Zu Beginn der 1970er Jahre änderte Kuhn seine Terminologie. Paradigmen im weiten Sinne bezeichnete er nunmehr als disziplinäre Matrix, während er konkrete Problemlösungen fortan Musterbeispiele nannte (allerdings gibt Kuhn den Begriff der disziplinären Matrix im Laufe der 70er Jahre wieder auf)
Ein Paradigma funktioniert, indem es dem Wissenschaftler sagt, welche Entitäten es in der Natur gibt und welche nicht, und wie sie sich verhalten. Durch diese Informationen entsteht eine Landkarte, deren Einzelheiten durch reife wissenschaftliche Forschung aufgehellt werden. Und da die Natur viel zu komplex und vielfältig ist, um auf gut Glück erforscht zu werden, ist diese Landkarte genauso wichtig für die kontinuierliche Weiterentwicklung der Wissenschaft wie Beobachtung und Experiment. Kuhn 1967 in: Die Struktur ... S. 121.
Einmal angenommen die Hypothese zum Paradigmenwechsel nach Thomas Kuhns "Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" ist für dich jetzt geklärt und stimmig. Angesichtes unserer heutigen Wahrheitskämpfe z.B. in der „Fake-News”- und „Wissenschaft ist relativ”-Debatte, wird der Beitrag von Kuhn so spannend: Denn der Übergang von einem Paradigma zu einem anderen ist seiner Meinung nach keine Frage besserer rationaler Argumente oder besserer empirischer Belege. Denn es sei vom jeweiligen Paradigma abhängig, welche theoretischen Begriffe den empirischen Befund überhaupt erfassen, welche methodischen Voraussetzungen und welche Dispositionen dafür gelten, was als relevante Daten mittels welcher Arten von Beobachtungen überhaupt in den Blick kommt.
Der Übergang von einem wissenschaftlichen Paradigma zu einem anderen nach Thomas Kuhn zeigt also, dass Wahrnehmung und Bewertung der Realität stark von den Annahmen (genauer: Vornahmen oder Grundaxiomen) eines bestehenden Paradigmas abhängen. Natürlich sind die nicht beliebig (also postmodern „relativ“), sondern bewähren sich nur, wenn das neue Gesamtbild-Konstrukt oder das neue Narrativ überzeugender die Wirklichkeit, wie wir sie erleben, erklären kann. Es geht also mehr Wirklichkeitsnähe und weniger Fantasie :-). Fakenews oder Verschwörungsglauben wollen im Unterschied zur Wissenschaft keine objektivierbaren Kritiker:innen und haben gar nicht den Anspruch der Überprüfbarkeit.
Da liegt der Unterschied zur Wissenschaftsdebatte und die Folge ist: Es lässt sich nicht argumentieren, sondern nur „glauben”. Damit ist aber auch jeder „seriöse” Glaube (also Religionen) in der Pflicht, sich heutzutage von Fakenews oder Verschwörungserzählungen zu unterscheiden. Wie? Indem er sich auf wissenschaftliche Überprüfung einlässt. Also empirisch messbar und so überprüfbar wird. Ein Beispiel: So kam Paulus mit seiner politischen Proklamation einer neuen Herrschaftsordnung in seinem ersten und ältesten überlieferten Brief zu der ethischen Forderung: Unterscheide die Ansagen von Propheten (am Maßstab der Güte, die sich wahrscheinlich auf die jüdische Grundüberzeugung der Summe der Thora bezieht). Da das Kriterium „gut” interreligiös kompatibel ist, lässt sich auch interreligiös eine „Ansage zur möglichen (guten) Zukunft“ prüfen:
„Legt dem Wirken des Heiligen Geistes nichts in den Weg! Geht nicht geringschätzig über prophetische Aussagen hinweg, sondern prüft alles. Was gut ist, das nehmt an. Aber was böse ist, darauf lasst euch nicht ein, in welcher Gestalt auch immer es an euch herantritt.” (NGÜ 1. Thessalonicher 5,20f).

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Theologie-Umbruch jetzt – zu welchem Preis?
Diese Kuhnsche Entdeckungsreise gibt uns nun einige wichtige Hinweise, welche Aufgaben auf die Entwicklung einer post- oder transchristentümlichen Theologie im Epochenumbruch zur Metamoderne warten:
1. Kontextgebundene Theologie: Wie Kuhn auf die Paradigmenabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis hinweist, betont auch die historisch-narrative Theologie ihre Kontextspezifik. In einer sich wandelnden Welt mit globalen Krisen und einem neuen Zeitalter, wie dem Anthropozän, muss sich Theologie als Meta-Denksystem neu ausrichten, um relevant zu bleiben. Wir starten darum mit einem historisch zu sichernden Kontext: der jüdischen Perspektive des 1. Jahrhunderts auf deren Vorgeschichte - Thora, Propheten - und ihre Ansagen und Erwartungen für die kommende Nahgeschichte (die für uns schon weit in der Vergangenheit liegt wie in diesem Film erläutert).
2. Narrative und Epochenwechsel: Der Bedarf, biblische Texte narrativ-historisch zu lesen, zeigt die Notwendigkeit, apokalyptische Erwartungen der Bibel seit dem 2. vorchristlichen Jahrhundert (Daniel und außertestamentarische Texte) nicht als „Endzeitvisionen”, sondern als Hoffnungsbilder für innere und soziale oder politische Transformation des 1. Jahrhunderts zu deuten. So hatten Jesus und Paulus unterschiedliche Zukunftsvorstellungen (Link), wie Gott sein Volk Israel rettet.
3. Krisen und Resilienz: Eine transchristentümliche Theologie (also eine, die ein mythisches Paradigma hinter sich lässt und zu einem radikal historischen wechselt) könnte sich auf die Bewältigung unserer Metakrise konzentrieren - wie schon die von Imperien und Untergang bedrohte jüdische Volksgruppe damals ihre Apokalypse vor Augen hatte. Indem wir von Epochebrüchen der Vergangenheit uns Mut machen lassen, können wir auf Resilienz, Gemeinschaft und kollektive Handlungsfähigkeit (Link) setzten. Eine metamoderne Theologie sollte Glaubensgemeinschaften befähigen, in chaotischen Zeiten Hoffnung und Handlungsfähigkeit zu bewahren ohne die zerstörerischen Kräfte hinter den Metakrisen zu verharmlosen. Es ging damals um das soziale und politische Überleben eines Volkes. Da die Antike Glaube und Politik nicht getrennt sah, war das Urbekenntnis „Jesus ist Kyrios” (Jesus ist Kaiser) eine politische Kampfansage an das imperiale System. Heute geht es um ein globales Imperium und dessen Schatten.
4. Herausforderung der Transformation: Wie Kuhns Paradigmenwechsel keine schrittweise Verbesserung, sondern eine radikale Neuorientierung bedeutet, erfordert eine transchristentümliche Theologie ein radikales Loslassen alter bisher logisch erschienenen dogmatischer Begründungen zugunsten eines neuen spirituellen Paradigmas, das das bisherige in ein neues Licht taucht. Wie das Urzeugnis der christlichen Schriften anders neu zu lesen wäre (unter jüdisch-apokalyptischen historischen Vorannahmen), habe ich ihier im Buch oder hier im e-Kurs zusammengefasst.
Für eine solche - im aufkommenden metamodernen Kontext - sinnstiftende Theologie ist also empirische Überprüfbarkeit wesentlich. Dabei sollte folgendes gewahrt sein:
- das Umfeld und zwar in der besonderen (modernen, postmodernen oder eben metamodernen) Deutung kulturellen Strömungen, also in seinen unterschiedlichen Narrativen ist zwar zu berücksichtigen, aber um dann herauszufinden, wieso z.B. ein metamodernes Narrativ als neues Paradigma in der Gegenwart empirisch überprüfbar mehr Sinn macht als ein modernes oder postmodernes.
- (neue) Narrative werden so als Transformationswerkzeuge eingesetzt (als bessere, erstrebenswertere, neue Begründungen) oder mit Kuhn gesagt: in einem neuen Paradigma gelesen und geordnet und
- diese Narrative lassen uns auf die Herausforderungen unserer Zeit mit einer erdgegründeten, integrativen Spiritualität reagieren - als bessere Praxis statt der Spiritualität als Flucht in ein paradiesisches Jenseits (traditionelle Apokalyptik: „Entrückung”) oder Erwartung eines Deus ex machina (Wikipedia), der uns wunderhaft herausrettet (übliche Eschatologie: „Jesus kommt wieder!”).
- die religiösen Begründungen können ihre Plausibilität nur aus einer empirisch bewahrheiteten Erfahrung wie die Überwindung des römischen Imperiums durch die Gruppe der Jesus-Gläubigen eine politisch erfahrbarer Epochewechsel (Link) es war. Darin liegt die Überzeugungskraft ihrer prophetischen Ansagen, nicht aber in überzeitlich-mythischen und ungeschichtlichen Glaubensbehauptungen. Heilsgeschichte trifft irdische Geschichte ...
Der Kuhn’sche Begriff der Inkommensurabilität enthält die folgenden, auf den ersten Blick heterogenen Elemente:[19]
- Die Paradigmen bieten Lösungen für unterschiedliche Probleme. Der Fokus auf das, was als durch die Wissenschaft zu klärendes Problem anzusehen ist, ändert sich hierbei.
- Auch wenn das Vokabular oft das Gleiche bleibt, ändern sich die Begriffe, die die Worte bezeichnen, mehr oder weniger radikal. Zudem werden manche Begriffe überhaupt nicht mehr verwendet und neue eingeführt.
- Anhänger konkurrierender Paradigmata üben ihre Tätigkeit in verschiedenen Welten aus. Kuhn ist sich bewusst, dass diese Aussage sehr schwer verständlich ist. Ist sie nur metaphorisch gemeint? Kuhn hat sich bis an sein Lebensende mit der Klärung dieser Frage beschäftigt und kam zu dem Schluss, dass man diese Redeweise irgendwie wörtlich verstehen müsse.
Tatsächlich bilden diese drei Elemente für Kuhn aber eine Einheit: Im Kern ist Inkommensurabilität das Resultat einer begrifflichen Veränderung.
Beispiele solcher narrativer „Revolutionen” sind für mich die unterschiedlichen Denk- und Erklärwelten wie sie im integralen Paradigma (siehe hier meinen Beitrag: Gott 9.0), das die (theologische oder spirituelle) Wirklichkeitswahrnehmung nach kulturellen oder entwicklungspsychologischen (meta-)Mustern ordnet. Du findest auf einer komprimierten Seite die unterschiedlichen Ordnungsversuche verschiedener Wissenschaftler unten im Schaubild, die von Ken Wilber in sein integrales Metasystem geformt wurden. Eigentlich beschreiben diese weltanschaulichen Sichtweisen-Wechsel im Kuhnschen Sinne Paradigmenwechsel.

Ein anderes für die metamoderne Theologie wichtigeres ist die Frage, wie ein empirisches Christentum nach dem idealistisch-augustinischen westlichen, europäischen Christentum (und nur dazu kenne ich mich aus) aus den alten „heiligen Texten” neu konfiguriert und besser begründet werden kann und damit eine neue prophetische Rolle in der Gesellschaft spielen könnte, die an einem Epochen-Umbruch steht. Kann dabei das oben skizzierte, neue Christentumsverständnis nützlich sein?
Uff. Das klingt alles nach viel Arbeit und Loslassen von altvertrauten Erzählungen, um das neue metamoderne Bild zu entwerfen. Im Metamoderne Salon am 24. April 25 (melde dich an!) sollten wir über das Loslassen und Trauern beim Verlust liebgewordener Welten auf diesem Weg ausführlich austauschen.
Solch ein Umbau theologischer Paradigmen (oder: Narrative) erfordert Mut:
sowohl zu theologischer Innovation als auch zur Auseinandersetzung mit den Unstimmigkeiten (die zu den komplexen Krisen unserer Welt führten), die jetzt als Weckrufe für eine Neudeutung umgenutzt werden.
- Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 1967, S. 142. ↩