Markus Gabriel präsentiert in diesen Quellen eine kritische Analyse der aktuellen globalen „Stapelkrise“, die er als Symptom einer tiefgreifenden anthropologischen Fehlwahrnehmung des Menschen von sich selbst identifiziert. Für Gabriel ist der Sinn des menschlichen Lebens das Tun des moralisch Richtigen, und dies ist der Kern des kommenden Projekts der neuen Aufklärung
Er argumentiert in dem hier verlinkten 1,5 Std. Interview, dass das moderne Zivilisationsmodell, das auf technologischer Expansion und einer Leugnung unserer geistigen Dimension basiert, nicht nur nicht nachhaltig ist, sondern auch paradoxerweise zur Steigerung der komplexen Probleme der Welt beiträgt. Gabriel fordert eine „Zeitenwende“ hin zu einem neuen Zivilisationsmodell, das auf einer umfassenden Anerkennung der Hyperkomplexität der Realität und einer „neuen Aufklärung“ basiert, welche die Kluft zwischen moralischem Denken und praktischem Handeln überwindet, da der Sinn des menschlichen Lebens im moralisch richtigen Tun liegt.
Gabriel identifiziert das gegenwärtige Zivilisationsmodell, das wir „Moderne” nennen und das er auf die letzten 220 Jahre, seit der Industrialisierung, datiert, als ursächlich für diese Krise:
- Dieses Modell basiert im Wesentlichen auf einer „Bestreitung unserer eigenen Geistigkeit“ und der Gründung einer technokratischen Zivilisation, die das Heil durch die Kombination von naturwissenschaftlich-technologischem Fortschritt und wirtschaftswissenschaftlich orchestrierter Implementierung (BIP) zu erreichen sucht [6, 7].
- Er hält es für „nicht nachhaltig“ und als gefangen in einer „gigantischen Psychopathologie“ [8, 9]. Die ersehnte Komplexitätsreduktion durch die Vereinfachung des menschlichen Lebens (z.B. schnellere Mobilität) trägt seiner Ansicht nach paradoxerweise zur Erhöhung der Komplexität der Wirklichkeit bei und ist damit Teil der Selbstzerstörung, etwa durch die Erzeugung von Hitze [10-13]. Also die unbeabsichtigten Nebenwirkungen machen aus einer Lösung ein Problem.
- Selbst das Lösen von Problemen wie der Energiekrise durch Kernfusion würde die zugrunde liegenden Probleme nicht beheben, da die Krisen sich einfach verlagern,
- indem die„Wirtschaft“ als System der Knappheitsmessung bleibt und das neue Feld der Auseinandersetzung dann z.B. der Kampf um das nächste knappe Gut (Lebensmittel) zu „Agrarkriegen“ führt und damit als Ausdruck gestörter menschlicher Beziehungen fortbestehen würden [9, 14].
Eine neue zivilisatorische Epoche (Metamoderne?)
Aus dieser Diagnose leitet Gabriel die Notwendigkeit einer „Zeitenwende“ und eines „völlig neuartigen Zivilisationsmodells“ ab [14-16]:
- Dieses neue Modell muss bei der Frage ansetzen: „Wer sind wir und wer wollen wir sein?“ [9].
- Es erfordert die „vollumfängliche Anerkennung“ und „Bewunderung der Hyperkomplexität der Wirklichkeit“, anstatt sie zu vereinfachen, da Simplifizierung ein „Beitrag zur Erhöhung der Komplexität“ und damit zur Selbstzerstörung ist [10, 11, 17, 18].
- Es geht um eine „neue Aufklärung“, die die Lücke zwischen Denken und Tun schließt [19-21].
- Dies beinhaltet die Entwicklung eines „immer zunehmenden Bewusstseins“ für die tatsächliche Bedeutung unserer täglichen Entscheidungen – sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene – und deren Auswirkungen auf unser eigenes Menschsein und andere [22].
- Gabriel betont, dass wir „ernst machen“ müssen mit Ethik und Philosophie, genauso ernsthaft wie mit Mathematik, Naturwissenschaft und Technik [23]. Der moralische Fortschritt, wie er ihn etwa in Bewegungen wie „Fridays for Future“ sieht, muss ernst genommen und durchdacht werden bis zu Ende, um die „Herausforderungen unserer Zeit in der Praxis“ konkret anzugehen [22].
- Die neue Zivilisation erfordert, gesellschaftliche Widersprüche aufzulösen und nicht von ihnen zu profitieren, wie er am Beispiel der Waffenlieferungen erläutert [24, 25].
- Für Gabriel ist der Sinn des menschlichen Lebens das Tun des moralisch Richtigen, und dies ist der Kern des Projekts der neuen Aufklärung [21, 26].
Motivation seiner Argumentation
Markus Gabriel leitet die gegenwärtige Situation von der „Stapelkrise“ab, die eine Vielzahl miteinander verknüpfter Krisen umfasst, wie beispielsweise die Corona-Pandemie, Kriege, ökologische Probleme und Herausforderungen für die Demokratie [1, 2]. Die eigentliche Wurzel und Schnittstelle all dieser Krisen ist seiner Ansicht nach jedoch eine grundlegende anthropologische Krise – nämlich: eine Krise des Menschen und seines Selbstverständnisses [1-3].
Die schlüssige Motivation für die Anthropologie als Lösung:
Die Kernidee Gabriels ist, dass die ökologische Krise und die geopolitische Krise, einschließlich der Tendenz zur Selbstausrottung des Menschen, das direkte Ergebnis einer „falschen Vorstellung des Menschen von sich selbst“ sind [1, 4]. Wenn wir uns fragen, wer oder was wir in diesem komplexen Geschehen der Krisen eigentlich sind, stellt sich heraus, dass der Mensch dasjenige Lebewesen ist, das im Lichte einer Vorstellung dessen, was es ist, handelt [5, 6].
- Handeln basierend auf Selbstverständnis: Im Gegensatz zu Tieren, die einfach sind, was sie sind (z.B. der Löwe ist, was er isst), sind Menschen unter anderem das, wofür sie sich halten und tun, was sie tun, im Lichte einer Vorstellung ihrer selbst [5, 6]. Diese Fähigkeit ermöglicht es uns, thermonukleare Kriege zu veranstalten, aber auch zum Feminismus und moralischen Fortschritt fähig zu sein [6]. Löwen werden hingegen nicht vegan oder feministisch [6].
- Der Mensch in der Krise: Wenn der Mensch in einer Krise ist, ist damit die Frage nach unserem Selbstverständnis gemeint [4, 7]. Die Selbstausrottungstendenz ist ein Ergebnis einer falschen Vorstellung des Menschen von sich selbst [4]. Eine geopolitische Krise, wie der Angriffskrieg Russlands, bzw. Putins, ist die Krise einer falschen dehumanisierenden Vorstellung einiger Menschen von anderen Menschen [4].
- Ethische Dimension: Eine falsche Beantwortung der Frage, wer oder was der Mensch ist, führt dann auch zu ethischer Verblendung [8, 9]. Gabriel argumentiert, dass die Ethik, die sich mit der Frage beschäftigt, was wir tun oder unterlassen sollen, ausschließlich im Mensch gründet [8]. Wenn wir unser Menschsein bestreiten oder eine falsche Vorstellung davon haben (z.B. die Bestreitung unserer Geistigkeit), begehen wir damit einen ethischen Fehler, der im Bösen resultiert [10, 11]. Die Moderne hat aus seiner Sicht eine technokratische Zivilisation aufgebaut, die unsere eigene Geistigkeit bestreitet und das Heil im naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritt sucht, was er als „gigantische Psychopathologie“ bezeichnet [11, 12].
- Der Wunsch, kein Mensch zu sein: Gabriel diagnostiziert den Wunsch, kein Mensch zu sein, als die eigentliche Triebkraft der drohenden Selbstausrottung [13]. Dieser Wunsch manifestiert sich in Ablenkungsfantasien wie dem Posthumanismus und Transhumanismus, die er als „reinen Unsinn“ und „pure Ideologie“ bezeichnet [14]. Gerade in Zeiten der Digitalisierung und der Vorstellung von „Uploads in die digitale Sphäre“ kommt Gabriels anthropologisches Traktat daher, um diesen falschen Vorstellungen entgegenzutreten [14, 15]. Er betont, dass der Mensch nicht am Ende ist und noch nie so viele Menschen existiert haben wie heute [16].
Die Schlüsselidee
Sinn des menschlichen Lebens: Letztendlich ist für Gabriel der Sinn des menschlichen Lebens das Tun des moralisch Richtigen [35, 36]. Dies ist der Kern des Projekts der Neuen Aufklärung [26, 36]. Es ist der „moralische Auftrag der Menschheit“, bei dem das Licht der Vernunft angezündet ist, unabhängig von der möglichen theologischen (oder metaphysischen) Frage, ob es einen „Sender“ hat oder nicht [35, 37].
Zusammenfassend ist die Schlüsselideefür ihn die, dass die Anthropologie die Grundlage bildet, weil unser Selbstverständnis nicht nur unsere individuelle Existenz prägt, sondern die eigentliche Ursache der globalen Krisen ist. Die Aufgabe der Philosophie in der Neuen Aufklärung ist es, dieses Selbstverständnis zu korrigieren, indem sie Ideologien entlarvt, die Komplexität der Wirklichkeit anerkennt, die Kluft zwischen Erkenntnis und Handeln überwindet und ein Bewusstsein für unsere moralische Verantwortung schafft, um ein nachhaltiges und moralisch integriertes Zivilisationsmodell zu entwickeln.
Gibt es einen theologischen Anschluss?
Die Kernidee Gabriels ist also, dass die ökologische Krise und die geopolitische Krise, einschließlich der Tendenz zur Selbstausrottung des Menschen, das direkte Ergebnis einer „falschen Vorstellung des Menschen von sich selbst“ sind [2, 4]. Für Gabriel handelt der Mensch im Lichte einer Vorstellung dessen, was er ist [5].
In Bezug auf die Theologie, obwohl die vorliegenden Quellen nicht explizit auf eine Anknüpfung von Gabriels Ideen für die Theologie eingehen, lassen sich einige mögliche Anknüpfungspunkte aus seinen Aussagen ableiten, die einen Einstieg für die Theologie ermöglichen könnten:
- Der "Geist" und seine Substanz: Gabriel betont, dass der Geist "Substanz" hat und unser geistiges Sein "klebrig und wirklich da" ist [34]. Er stellt die These auf, dass der Mensch ein "geistiges Lebewesen" ist und die Bestreitung dieser Geistigkeit eine Bestreitung unseres Menschseins und somit ein ethischer Fehler ist, der im Bösen resultiert [12, 35]. Dies könnte für die Theologie eine Brücke sein, um über die Natur des Geistes, die Seele oder eine immaterielle Dimension des Menschen nachzudenken, die in vielen theologischen Traditionen eine zentrale Rolle spielt. Gabriels Aussage, dass es um die klassische Formel des "an und für sich sein" geht, während die Natur das "an sich" und der Geist das "für sich" ist, die beide aber zusammengehören [36, 37], könnte theologisch als philosophische Reflexion über die Beziehung zwischen Schöpfung (Natur), Geschöpflichkeit (Mensch als Teil der Natur) und dem Göttlichen (als mögliche Quelle des Geistes oder des Sinns) dienen.
- Die moralische Dimension und der „Sinn des Lebens“: Gabriel postuliert, dass der Sinn des menschlichen Lebens im „Tun des moralisch Richtigen“ liegt und spricht von einem „moralischen Auftrag der Menschheit“ [31-33]. Diese normative Setzung, die er als "Licht der Vernunft" bezeichnet, ist "da", unabhängig davon, ob es einen "Sender" (Gott oder Götter) hat oder nicht [33]. Für die Theologie könnte dies ein Ansatzpunkt sein, um zu untersuchen, inwiefern diese moralische Erkenntnis und der Auftrag zur Ethik (die "Sendung") als ein Ausdruck göttlicher Offenbarung oder als ein in die menschliche Natur eingeschriebener Sinn verstanden werden können, der von einem "Sender" herrührt. Die Theologie könnte die Frage nach dem "Sender" vertiefen, die Gabriel als Philosoph offen lässt [31]. Und vielleicht damit auch Antworten generieren, inwiefern der Sender für den Erfolg der Sendung miteinsteht, also energetisch dahinter steht und diese „guten Prozesse“ stützt.
- Die Diagnose der „Psychopathologie“ und des „Wunsches, kein Mensch zu sein“: Gabriels kritische Diagnose der modernen Zivilisation als „gigantische Psychopathologie“, die von einem „Wunsch kein Mensch zu sein“ angetrieben wird [7, 13, 14], bietet der Theologie eine Möglichkeit, diese Phänomene aus ihrer eigenen Perspektive zu interpretieren. Konzepte wie Sünde, Entfremdung, oder die Abwendung vom göttlichen Plan könnten theologische Analogien für diese "gestörte Selbstverhältnis" des Menschen bieten, das zu Selbstzerstörung führt [38].
- Der Ruf nach einem „völlig neuartigen Zivilisationsmodell“: Der Appell Gabriels, ein neues Zivilisationsmodell zu entwickeln, das bei der Frage „Wer sind wir und wer wollen wir sein?“ ansetzt [13, 16], könnte für die Theologie die Grundlage für eine Diskussion über eine "Theologie der Schöpfung" oder eine "Ethik der Bewahrung" sein, vielleicht auch an die neuzeitliche interpretation des „Reiches Gottes“ als anzustrebende Utopie anknüpfen, die den Menschen in seiner Verantwortung gegenüber Schöpfung und Mitmenschen verankert. Eine theologische Antwort könnte über die rein philosophische oder empirische Diagnose hinausreichen, weil wie einen stützenden transzendenten Bezugsrahmen für die Gestaltung dieser neuen Zivilisation bieten und motivatonale Gemeinschaften gründet, die dieses Programm als Akteure in ihre Lebenswelten tragen.