Hanzi Freinachts zweites Kapitel seines unveröffentlichten Buches „The 6 Hidden Patterns of History: Ein metamoderner Leitfaden zur Weltgeschichte“, das hier als „Rain Dance Conquers the World“ bezeichnet wird, widmet sich dem Animistischen Metamem nun im Detail. Es definiert dieses Metamem, erklärt seine Entstehung und seinen Einfluss auf die Menschheitsgeschichte und setzt sich kritisch mit gängigen historischen und anthropologischen Einteilungen auseinander.
Hier eine humorvoll-ironische Einführung als leichte Kost mit Audio-Spass.
1. Gliederungslogik und Aufbau des Kapitels
Das Kapitel folgt weiterhin einem dialogischen Aufbau zwischen HF und einem (fiktiven?) Fragesteller (Q). Dieser Dialog ermöglicht es HF, seine Konzepte schrittweise zu erläutern und dabei direkte Einwände und Missverständnisse des Fragestellers zu adressieren. Die Gliederungslogik kann wie folgt beschrieben werden:
- Einleitung und Kritik konventioneller Periodisierung: HF beginnt mit einer scharfen Kritik an archäologischen Bezeichnungen wie „Steinzeit“ oder „Bronzezeit“. Er argumentiert, dass diese Begriffe zu materiell und unflexibel seien und keine aussagekräftigen qualitativen Unterscheidungen sozialer und kultureller Entwicklung erlaubten. Er untermauert dies mit Beispielen wie dem Fehlen der Bronzezeit in Subsahara-Afrika oder der Kategorisierung komplexer Mayazivilisationen als „Steinzeit“.
- Definition und Merkmale des Animistischen Metamems: Es folgt eine detaillierte Beschreibung des Animismus als Weltanschauung. HF erläutert dessen Kernelemente wie die Nicht-Trennung von Geist und Materie, die erweiterte Personhaftigkeit (auch von nicht-menschlichen Entitäten), die Rolle des Schamanen als Vermittler zwischen Mensch und umgebender größerer „Geister-Welt” und die geringere Entfremdung von der Natur im Vergleich zur Moderne.
- Entstehung des Animismus – die „Revolution des Oberpaläolithikums“: HF verortet die Entstehung des Animistischen Metamems in der sogenannten „Revolution des Oberpaläolithikums“ vor etwa 50.000 Jahren. Er verteidigt den Begriff „Revolution“ trotz kritischer Einwände als Zeitraum eines technologischen und kulturellen „Aufbruchs“.
- Mechanismen der memetischen Evolution: Der zentrale Mechanismus für die Entstehung des Animismus ist die Entwicklung komplexer symbolischer Sprache. Dies ermöglichte eine schnellere memetische Evolution im Vergleich zur genetischen und die Koordination größerer Menschengruppen durch gemeinsame Mythen.
- „Kunst kommt immer zuerst“ (Revisited): Das Konzept, dass künstlerische Ausdrucksformen die frühesten Indikatoren für ein neues Metamem sind, wird anhand von prähistorischer Kunst und Werkzeugen untermauert, die lange vor der vollen Ausprägung des Animismus auftauchten.
- Die „weichen Metameme“ und Macht: HF korrigiert die Vorstellung, dass „weiche“ Metameme (wie Animismus, Postfaustianismus, Postmodernismus) nur „die Guten“ seien. Er argumentiert, dass sie ihren Trägern Wettbewerbsvorteile verschaffen, indem sie soziale Kohärenz und Koordination verbessern, was zu Macht und Expansion führt.
- Kritik der „Original Affluent Society“: Die romantische Vorstellung einer utopischen Jäger- und Sammlergesellschaft wird relativiert. HF weist darauf hin, dass animistische Gesellschaften je nach Umständen friedlich oder gewalttätig, wohlhabend oder Not leidend sein konnten und unterschiedliche Sozialformen entwickelt haben (siehe auch hier: D. Graber & D. Wengrow, „Anfänge…“)
- Die „verlorenen Schönheiten“ des Animismus: Trotz der Relativierung hebt HF bestimmte Qualitäten des Animismus hervor, die im Zuge der weiteren kulturellen Entwicklung verloren gingen und deren Wiederentdeckung für die metamoderne Zukunft relevant ist: das freie Jäger-und-Sammler-Leben, die enge Gemeinschaft, der Egalitarismus, die tiefe Naturverbindung und die „entzauberte“ Welt.
- Animismus heute – Überlebende, Reenactments und Regressionen: Das Kapitel schließt mit einer Analyse, wie sich animistische Elemente in der heutigen Welt manifestieren: als „Überlebende“ (isolierte Stämme), als „Reenactments“ (symbolische, kulturelle Wiederaufnahmen in modernen Kontexten) und als „Regressionen“ (pathologische Rückgriffe auf animistische Logiken durch Menschen, die sich nicht erfolgreich an spätere Metameme angepasst haben).
2. Analyse der Argumentation
HFs Argumentation im zweiten Kapitel ist vielschichtig und provokativ, oft in direkter Konfrontation mit dem Fragesteller (Q), der die Rolle des skeptischen Kritikers einnimmt.
- De-Konstruktion und Re-Konstruktion: HF beginnt damit, etablierte wissenschaftliche Begriffe („Steinzeit“, „Bronzezeit“) als unzureichend zu de-konstruieren und bietet stattdessen seine eigenen qualitativen Metamem-Kategorien als überlegene Erklärungsmodelle an. Er argumentiert, dass diese Kategorien „Muster mit viel größerer Tiefe und Präzision beschreiben“ und „besser erklären, was passiert ist und warum“.
- Legitimierung durch Logik und Evidenz: Um seine Behauptungen zu untermauern, verweist HF auf eine „Triangulation von Quellen“ aus Archäologie, Anthropologie, Psychologie und Ökologie. Er legt Wert darauf, dass seine Modelle empirisch fundiert sind und „reale Muster der Welt sinnvoll beschreiben und vorhersagen“. So erklärt er beispielsweise die Dominanz des Animismus nicht durch moralische Überlegenheit, sondern durch die erhöhte soziale Kohärenz und Kooperationsfähigkeit, die der Animismus seinen Träger:innen verlieh.
- Relativierung von Fortschritt und Moral: HF wehrt sich explizit gegen die Vorstellung, dass seine Stufentheorie ein moralisches Urteil über „bessere“ oder „schlechtere“ Kulturen impliziert. Er betont, dass jede Stufe ihre eigenen „verlorenen Schönheiten“ mit sich bringt und dass „höher“ nicht automatisch „besser“ bedeutet, sondern komplexer und reifer in bestimmten Aspekten. Gleichzeitig behauptet er, dass Stufentheorien „moralisch vorzuziehen“ sein können, da sie zu Nicht-Urteilen, Gleichheit und dem Verbinden von Kulturen beitragen. Die „weichen“ Metameme seien nicht prinzipiell „besser“, sondern lediglich aus einer „anderen Logik“ heraus entstanden, die sich durchgesetzt habe.
- Abgrenzung von Dogmatismus und Vereinfachung: HF kritisiert intellektuelle Feigheit und die postmoderne Vermeidung „großer Geschichten“. Er sieht seine Metameme als „Weltkarten“, die eine Orientierung in einer von multiplen Krisen geprägten Welt ermöglichen. Er gesteht ein, dass seine Darstellung eine Vereinfachung darstellt („blurry jpeg image“), aber eine notwendige, um grundlegende Muster zu erkennen, die nicht „linear“ im Sinne einer simplen Addition sind, sondern qualitative Sprünge darstellen.
- Umgang mit Gegenbeispielen („Proto-Elemente“): Wenn Q auf prä-animistische Kunst oder proto-moderne Elemente in vormodernen Kulturen hinweist, argumentiert HF, dass dies „Proto-Elemente“ sind, die sich noch nicht zu einem „vollständigen Metamem“ verbunden haben. Er betont, dass für ein volles Metamem „viele Dinge miteinander verbunden sein und die gleichen zugrundeliegenden Prinzipien verstärken müssen“.
3. Bewertung der Plausibilität des Gedankenganges
HFs Gedankengang im zweiten Kapitel ist wieder beides: provokativ und anregend, bietet aber auch einige überzeugende Argumentationslinien, während andere Aspekte weiterhin diskussionswürdig bleiben:
- Stärken des Gedankenganges:
- Qualitative Periodisierung als Stärke: HFs Ablehnung rein chronologischer oder materialbasierter Periodisierungen zugunsten qualitativer Metamem-Kategorien ist analytisch überzeugend. Dies ermöglicht es, tiefere logische Zusammenhänge und nicht-willkürliche Muster in der Geschichte zu erkennen. Die Beispiele der Mayas oder Afrikas als „Steinzeit-Zivilisationen“ verdeutlichen die Schwächen traditioneller Klassifikationen.
- Differenzierte Betrachtung von „Fortschritt“: Die Behauptung, dass Entwicklung in Stufen geschieht und kompetitive Vorteile mit sich bringt, ohne jedoch eine universelle moralische „Verbesserung“ zu implizieren, ist eine geschickte argumentative Volte. Die Idee, dass „weiche“ Metameme (wie Animismus) die Träger mächtiger machen, weil sie soziale Kohärenz steigern, bietet eine pragmatische Erklärung für deren Durchsetzung.
- Integration von „Beauties Lost“: Die Anerkennung, dass jeder Metamem-Übergang auch den Verlust wertvoller Qualitäten mit sich bringt, verleiht dem Modell Nuance und Tiefe. Diese „verlorenen Schönheiten“ (z.B. Naturverbundenheit, Gemeinschaftssinn des Animismus) werden nicht nur als nostalgische Phänomene abgehandelt, sondern als relevante Aspekte für die menschliche psychische und ökologische Gesundheit in der Gegenwart verstanden. Dies macht das Modell weniger triumphalistisch und anwendungsbezogener.
- Erklärung der Ungleichzeitigkeit: Das Konzept der „schiefen Entwicklung“ („Art always comes first, Morality comes last“) bietet eine elegante Erklärung für die beobachtbaren Ungleichzeitigkeiten historischer Entwicklungen (z.B. frühe moderne Kunst vor moderner Moral) und die Persistenz älterer Logiken in neuen Kontexten.
- Herausforderungen und potenzielle Schwächen:
- Empirische Überprüfbarkeit der „Qualitäten“: Obwohl HF eine Triangulation von Quellen anführt, bleibt die objektive Messbarkeit und Abgrenzung dieser qualitativen „Muster“ oder „Logiken“ eine Herausforderung. Die Feststellung, dass „Animismus rational“ ist, aber nicht im gleichen Sinne wie die Moderne, oder dass bestimmte Verhaltensweisen „typisch“ für ein Metamem sind, kann als Interpretationsleistung HFs und nicht als unmittelbar gegebene Tatsache kritisiert werden.
- Impliziter Wert von „Komplexität“: Trotz HFs Bemühung, normative Urteile zu vermeiden, legt die Betonung von „höherer Komplexität“ der späteren Metameme einen impliziten Fortschrittsbegriff nahe. Auch wenn er die „Maturität“ älterer Metameme hervorhebt, bleibt die Grundrichtung seiner Erzählung eine Bewegung zu immer komplexeren gesellschaftlichen und kulturellen Formen.
- Zirkelschluss bei „Proto-Elementen“: Die Argumentation, dass bestimmte historische Phänomene „proto-“ sind, weil sie nicht vollständig in die „Gesamtlogik“ eines Metamems passen, kann als zirkulär empfunden werden. HF definiert die Metameme und nutzt dann diese Definitionen, um Elemente als „proto“ oder „vollständig“ zu klassifizieren, was es schwierig macht, das Modell durch Gegenbeispiele zu falsifizieren.
- Die Rolle der menschlichen Intentionalität: HF betont, dass Meme die Menschheit „ferngesteuert“ haben und die Geschichte „vorwärts stolpert“. Obwohl er auch die bewusste menschliche Reaktion auf Probleme als treibende Kraft der memetischen Evolution anführt, bleibt das Verhältnis von memetischer Determinierung und menschlicher Agency im Modell teilweise unklar.
Insgesamt ist HFs Darstellung des Animistischen Metamems eine dichte und argumentativ reichhaltige Auseinandersetzung mit einem fundamentalen Abschnitt der Menschheitsgeschichte. Die Plausibilität seines Gedankenganges hängt stark von der Akzeptanz seiner methodologischen Prämissen ab, insbesondere der Idee der qualitativen Metameme und der „schiefen Entwicklung“. Während er einige überzeugende Erklärungen für historische Dynamiken bietet und sich geschickt mit Kritik auseinandersetzt, erfordert sein Modell vom Leser, die Abstraktionsebene zu akzeptieren und die spezifischen Interpretationen der historischen Evidenz als kohärent innerhalb seines Rahmens zu betrachten.