Jesus und das Imperium, Staat und Kirche

Andrew Perriman | 23. Mai 2024

Es wird oft ein Widerspruch zwischen den Werten Jesu und den Praktiken der Christenheit gesehen, was zu der Ansicht führt, dass die historischen Handlungen der christentümlichen Kirche ein Verrat am Evangelium waren. Aus einer narrativ-historischen Perspektive kann die Bekehrung des Römischen Reiches jedoch als Erfüllung der neutestamentlichen Erwartungen angesehen werden. Die Lehren Jesu in Markus 10, 35-45 betonen zwar, dass Herrlichkeit und Reich durch Leiden erreicht werden und fokussiert damit den Weg zur Epochenwende. Die frühe Kirche bekam danach die politisch-religiöse Rolle als priesterliche Gemeinschaft und hatte damit andere ethische Standards und Aufgaben als die Realpolitik des römischen Kaisers. Das Neue Testament konzentriert sich ausschließlich auf die Wirren der nahenden Apokalypse (Zusammenbrüche), das Aushalten von Verfolgung, nicht auf die Rolle der Kirche in einer späteren, postheidnischen, neuen imperialen Ordnung. Und wie argumentieren wir jesuanisch-friedensethisch in unseren Kontexten? Gelten „Thron“ oder „Leiden“?

Lesezeit: 10 Minuten

Romantischer gewaltfreier Jesus?

Zwischen den Werten Jesu und den Praktiken des Christentums besteht – zumindest in der allgemeinen modernen Vorstellung – ein offensichtlicher Widerspruch. Vielleicht ist es auch eine Schutzbehauptung der nach-konstantischen Kirche im Westen, ihre Vergangenheit heute größtenteils mit Schrecken und Scham zu betrachten, als hätte sie damit nichts zu tun. War die Bekehrung des Römischen Reiches nicht ein schrecklicher Fehler, ein Verrat am Evangelium, eine Beleidigung des Andenkens an Jesus, den Pazifisten, den Liebhaber der Feinde, den Freund der Zöllner und Prostituierten, den Propheten und Sozialrevolutionär gegen das Establishment?

Ist die Auslegung der historisch-narrativen Lesart der Schriften nicht schon in ihrem wichtigsten Punkt falsch? Wenn sie behauptet dass der historische Sieg der Kirche über das heidnische Rom mit dem Symboljahr 313 n.Chr. eine angemessene Erfüllung der Ziele Jesu oder der frühen Kirche darstellte?

Nun, ich denke, dass diese Behauptung genau das Narrativ des Neuen Testamentes zutreffend wiedergibt, sie also durchaus berechtigt ist, wenn wir davon ausgehen, dass das Neue Testament in seiner Sichtweise grundsätzlich ebenso realistisch ist wie das Alte Testament. Jesaja konnte sich vorstellen, dass die heidnischen Völker Mesopotamiens ihre Götzen aufgeben und dem einen Gott des nach Babylon verbannten Israels die Treue schwören würden; Paulus war überzeugt, dass so etwas in seiner eigenen Welt geschehen würde (Jes. 45, 22-46, 2; Phil 2, 10-11).

Aber finden wir in einem Text wie Markus 10,35-45 nicht eine Ethik, eine Einstellung zur Macht, die mit den unmittelbaren Realitäten des christianisierten Roms völlig unvereinbar ist? Sehen wir uns das mal genau an.

Herrlichkeit und Königtum

Jakobus und Johannes bitten darum, an der Seite Jesu in seiner Herrlichkeit oder in seinem Reich zu sitzen (Mk. 10, 37; Mt. 20, 21). Jesus hat seinen Jüngern gerade gesagt, dass der Menschensohn der Obrigkeit übergeben und von deren römischen Besatzern hingerichtet werden wird, aber am dritten Tag auferstehen wird. Die anmaßenden Söhne des Zebedäus haben die Bedeutung dieser Aussage vielleicht nicht ganz erfasst, aber Jesu Worte hätten sie an das Bild des Daniels1 „der einem Menschensohn gleicht“ erinnern sollen, der zum Richterstuhl Gottes kommt, um die Herrlichkeit und das Reich zu empfangen, die dem grausamen vierten Tier – dem bösartigsten, zerstörerischsten und lästerlichsten aller Reiche – genommen werden (Dan. 7, 9-14). Sie hätten verstanden, dass er eine Geschichte über politische Umgestaltung erzählt.

Jesus macht dann deutlich, dass die Teilhabe an dieser Herrlichkeit und diesem Reich nur über das Leiden möglich ist. Sind die Jünger bereit, denselben Kelch des Zorns Gottes gegen Israel zu trinken? Sind sie bereit, sich auf denselben Tod um Israels willen taufen zu lassen? Sie sind dazu bereit? Und Jesus bestätigt, dass dies ihr Schicksal sein wird; dennoch: „Zu meiner Rechten oder zu meiner Linken zu sitzen, ist nicht meine Sache, sondern denen, für die es bereitet ist“ (Mk 10, 40).

Die anderen Jünger sind über die Hintergedanken von Jakobus und Johannes verärgert, es kommt zu einem kleinen Streit, und Jesus muss sie alle zur Ordnung rufen.

Und nachdem er sie gerufen hat, sagt Jesus zu ihnen:

»Ihr wisst, dass die, die als Herrscher über die Völker betrachtet werden, sich als ihre Herren aufführen und dass die Völker die Macht der Großen zu spüren bekommen. Bei euch ist es nicht so. Im Gegenteil: Wer unter euch groß werden will, soll den anderen dienen; wer unter euch der Erste sein will, soll zum Dienst2 an allen bereit sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben.« (Mk. 10, 42-45)

Jesus hat in dieser Argumentation nicht die (angekündigte und von ihm letztlich auch erwartete) Herrschaft über die Völker im Blick. Seine Jünger sollen nicht nach der Art heidnischer Herrscher an seiner Herrlichkeit und seinem Reich teilhaben, sondern sein realistisch-historischer Horizont bleibt die chaotische, apokalyptische Transformation Israels, die in der Zerstörung Jerusalems und dem Umsturz des alten Besatzer-Regimes gipfelt.

Seine Lehre ist sehr kontextuell und richtet sich an diejenigen, die seinen (unheils-)prophetischen Dienst an Israel in der Endzeitperiode bis zum Krieg gegen Rom im Jahre 66 n.Chr. fortsetzen werden.

Es sind die Mitglieder des Jerusalemer Hohen Rates, die „den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen werden“ (Mk. 14, 62).

Die Botschaft vom „Reich“ und der „Herrlichkeit“ gehört zum späteren Abschnitt der Geschichte, zur Phase der „Wiedergeburt (griech: palingenesiai3), wenn der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen und die zwölf Stämme Israels richten wird“, wobei die Jünger neben ihm thronen werden (Mt 19, 28). Dies alles ist Teil desselben apokalyptischen Bildes/Narratives.

Diese „Wiedergeburt“ bezieht sich übrigens nicht auf die Völker, sondern ist in diesem Zusammenhang ein Begriff für die Erneuerung oder „Wiedergeburt“ des Volkes Gottes. Josephus berichtet z.B., dass die Juden, als Serubbabel von Darius beauftragt wurde, das Land Israel wiederherzustellen, „sich dem Trinken und Essen hingaben und sieben Tage lang ein Fest feierten, um ihr Land wieder aufzubauen und wiederherzustellen (griech. hier wieder der Begriff palingenesian)“ (Josephus, Ant. 11, 66).

Dennoch lassen sich aus diesen beiden sehr unterschiedlichen Wegen zur Größe einige Schlussfolgerungen ziehen, die uns helfen können, das Verhältnis der Kirche zur politischen Macht im späteren „Christentum“ zu verstehen.

Es ist nichts falsch an heidnischer Größe

  1. Jesus kritisiert oder verurteilt nicht die Art und Weise, wie die Heiden regieren. Er stellt lediglich fest, dass die Anerkennung von Autorität und Größe, die Jakobus und Johannes für sich selbst anstreben, aus der Ausübung von Herrschaft und Machtausübung über die Völker resultiert. Im Lukasevangelium werden direkt „Könige“, die die Herrschaft ausüben, und Menschen mit Autorität, die „Wohltäter“ genannt werden, erwähnt (Lk 22, 25). Die Nachfolger Jesu würden die Anerkennung ihrer eigenen Autorität, ihrer Größe und ihrer Wohltaten in der neuen Ordnung – ihr Ansehen in der Gemeinschaft der Gläubigen und vielleicht auch darüber hinaus – jedoch auf eine ganz andere Weise erlangen. Die Zwölf würden Ansehen und Wertschätzung genießen, weil sie anderen dienten und weil sie Leiden und höchstwahrscheinlich auch den Märtyrertod ertrugen.
  2. Wenn man dies auf die nachheidnisch-imperiale Situation überträgt, auf die die frühen apostolischen Gemeinschaften in der griechisch-römischen Welt hofften (Röm 15, 12-134), dann können wir wohl davon ausgehen, dass es weiterhin einen ethischen Unterschied zwischen den Nationen und der Kirche gibt, auch wenn die Nationen dem Götzendienst abgeschworen haben und nun den einen Gott anbeten, der Himmel und Erde geschaffen hat.
    1. Nationen haben ihre politischen Hierarchien, aber sie haben auch ihre Priesterschaften, deren Aufgabe es ist, ein Gleichgewicht zwischen der irdischen und der himmlischen Ordnung aufrechtzuerhalten. Was also (im Prinzip) mit der Gründung des Christentums geschah, war, dass die Kirche als priesterliches Volk des lebendigen Gottes, Erben der Geschichte Israels als königliches Priestertum unter den Nationen, die Rolle der alten heidnischen Priesterschaften übernahm. Aber die beiden Bereiche, der politische und der priesterliche, funktionierten weiterhin nach unterschiedlichen Regeln – die Pragmatik der weltlichen Regierung auf der einen Seite, die Anforderungen der priesterlichen Heiligkeit auf der anderen.
    2. Es war klar, dass die Kirche ihre Aufgabe darin sehen würde, das Gleichgewicht zwischen dem sozial-politischen Leben der Nationen und den radikal neuen individuellen Maßstäben aufrechtzuerhalten, die sich aus der Anbetung des gerechten Gottes ergaben, der den Himmel und die Erde geschaffen hat. Es gibt jedoch keinen Grund zu der Annahme, dass die Werte der formell „christlichen“ Gesellschaften dieselben sein sollten wie die Werte der „heiligen“ priesterlichen Gemeinschaften.

Aber das Neue Testament ist hier keine große Hilfe

Das Neue Testament schreibt Verhaltensweisen für die sich überlagernden Zwischenzeiten vor – das Ende des Zeitalters des Judentums des Zweiten Tempels, das Ende des Zeitalters des klassischen Heidentums. In beiden Fällen wird erwartet, dass diejenigen, die an diese neue Zukunft glauben, schwere Verfolgung erleiden müssen, so dass im Mittelpunkt des Ethos dieser Bewegungen eine passive, nicht auf Vergeltung setzende, sich selbst verleugnende Reaktion auf solche Gewalttaten (der Verfolger) stehen.

Herrlichkeit und Reich Gottes sind der krönende Endpunkt dieser Periode des treuen Zeugnisses, und die Mission dieser Märtyrer, die an der Seite Jesu sitzen, wird nicht darin bestehen, ihr Kreuz auf sich zu nehmen, die andere Wange hinzuhalten, die Rache Gott zu überlassen, einander zu dienen usw., sondern in den kommenden Zeitaltern zu richten und zu herrschen.

Das Neue Testament befasst sich jedoch nicht mit der Frage, wie sich die Kirche, die ein priesterliches Volk für die Völker des griechisch-römischen oikoumenē ist, in der künftigen neuen Ordnung verhalten soll, wenn die Schmerzen, die die Geburt des kommenden Zeitalters begleiten, abgeklungen sind, wenn die Trübsal ein Ende gefunden hat, wenn die Bedrohung durch die Gewalt beseitigt ist. Das Neue Testament befasst sich mit dem Krieg (vgl. Röm 13, 11-14), nicht mit dem Frieden, der erst dann eintritt, nachdem der Krieg gewonnen ist.

Anwendung auf Friedensethik (Helge)

Mit dem großen Neutestamentler Walter Wink, der die Trilogie über die Sprache und Begriffe zu „Mächte“ in der Bibel erforschte, war ich jahrelang von der grundsätzlich gewaltfreien Mission der Kirche überzeugt. Jetzt angesichts des brutalen Überfalls eines Imperiums auf die Nation an der europäischen Ostgrenze, der Ukraine, musste ich mir die Frage stellen, wie würde Jesus in diesem Kontext argumentieren?

Gilt hier weiterhin gewaltfreier Widerstand, also „pazifistische“ Reaktion als Regel? Mit Methoden des gewaltfreien Widerstands hatten die Ukrainer sich gegen die von Putin gestützten moskaufreundliche Regierung am Euromaidan 2014 per „Volksaufstand“ angesichts bewaffneter Staatsmacht mit großer Leidensbereitschaft und sogar mit „Märtyrern“ gestellt. Doch gegen den russischen Überfall, dem Krieg eines Imperiums mit „anonym“ auf Zivilisten gerichteten Waffen, haben sie „auf Augenhöhe“ mit Selbsterteidigung als Nation per Waffen reagiert. Wäre das jesuanisch zu rechtfertigen?

Perriman hilft hier eine wichtige Unterscheidung durch die historisch-narrative Lesart zu erzeugen:
„… Das Neue Testament erklärt in seinem Kontext, wie dieses Ergebnis der Überwindung der heidnischen Vorherrschaft schließlich erreicht werden würde – durch die Treue zunächst Jesu und dann der sozial unterdrückten, verfolgten Kirchen in einer feindlichen Welt.5

Dies ist oft als ideale und dauerhafte Regelung missverstanden worden. Das ist es aber nicht. Es war ein Weg, um von A nach B zu gelangen – wie der Exodus oder der zweite Exodus, die Rückkehr aus dem Exil. Die Erfahrung der Wüste ist nicht normativ, sie ist nur vorübergehend und macht nie viel Spaß.

Allerdings hat sich die Erfüllung der regionalen eschatologischen Vision in der Geschichte auch nicht als dauerhaft erwiesen.6

Darum sind in historisch-narrativer Lesart die Argumente für den Fortbestand einer Staatskirche äußerst schwach. Die seit der Französischen Revolution von der Staatsmacht „befreiten“ Kirchen im „gesellschaftlichen Niedergang“ mögen sich selbst als reformatorisch betrachten und zum (angeblich einzigen) neutestamentlichen Muster zurückkehren, aber in Wirklichkeit sind sie Vorboten eines neuen Exils. Die Ähnlichkeit mit den frühen Gemeinden der Jesus-Anhänger ist vielleicht bedeutsam, aber in einem wesentlichen historischen Sinne zufällig.“

Ich, Helge, würde in dieser Auslegungslogik anmahnen, dass wir grundsätzlich die Lehren Jesu in ihrem sehr spezifischen Kontext einer apokalyptischen Umbruchszeit lesen sollten und keine überzeitlich-allgemeinen Schlüsse ziehen können, zumal sich unsere heutigen Kontexte radikal zu damals verschoben haben oder sich von den Intentionen Jesu oder den Kontexten der Jünger deutlich unterscheiden.

Die vorherrschende Sehnsucht ist immer wieder überdeutlich zu spüren, aus dem Neuen Testament „ewige“ Lehren zu konstruieren – gerade auch für die Friedensethik! – wobei gleichzeitig die geschichtlich bedingten prophetischen Perspektiven des Alten Testamentes sehr wohl wahrgenommen, aber als „vergangen“ registriert und damit theologisch irrelevant werden. Ich nenne das mal salopp als antijüdischen Auslegungsreflex (Altes Testament ist alt, Neues Testament ist ewig). Der kam im 2. Jahrhundert auf, als wären die neutestamentlichen Zeug:innen keine Jüd:innen und die ersten Christ:innen quasi mit Jesus eine „neue Offenbarung Gottes“ und damit „ eine neue Religionsgemeinschaft“. Weder Jesus noch Paulus verließen die jüdischen Narrative und es lag ihnen fern, „Christen“ als gegenjüdische Religion aufbauen. Dieser Impuls kam erst nach den Wirren der römisch-jüdischen Kriege ab 66 n. Chr., als die Christen sich auch zum sozialen Selbstschutz mehr und mehr von „den aufständischen Juden“ differenzierten, um nicht in römischer Gewalt unterzugehen… Aber das ist eine neue Geschichte.

  1. Das Buch Daniel ist historisch der Anfang der apokalyptischen Deutung der Israel umgebenden imperialen Mächte mit der Ansage, dass die Reiche fallen werden, um dem Gesandten JHWHs die Macht zu übergeben.
  2. „Sklave aller sein“
  3. ἀμὴν λέγω ὑμῖν ὅτι ὑμεῖς οἱ ἀκολουθήσαντές μοι ἐν τῇ παλιγγενεσίᾳ, ὅταν καθίσῃ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἐπὶ θρόνου δόξης αὐτοῦ, ⸀καθήσεσθε καὶ ⸁ὑμεῖς ἐπὶ δώδεκα θρόνους κρίνοντες τὰς δώδεκα φυλὰς τοῦ Ἰσραήλ.
  4. Und Jesaja sagt:
    »´Bald wird er da sein,
    der Spross, der aus der Wurzel des Isai hervorwächst;
    er wird sich erheben,
    um die Herrschaft über die Völker auszuüben.
    Auf ihn werden die Völker hoffen.«
    Darum ist es mein Wunsch, dass Gott, die Quelle aller Hoffnung, euch in eurem Glauben volle Freude und vollen Frieden schenkt, damit eure Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes immer unerschütterlicher wird.
  5. In Analogie zur ukrainischen Widerstandsbewegung gegen die eigenen Regierung…
  6. Perriman meint hier die Entwicklung der westlichen Kirchen, dem „Christentum“, das seit der Neuzeit in einem Transformationsprozess weg von der politischen Macht zur Marginalisierung ist.

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