Forget Utopia. Ignore Dystopia. Embrace Protopia!

Einige Befürworter des protopischen Denkens glauben, dass es uns in eine bessere Zukunft führen kann. Andere behaupten, wir lebten bereits in einer Protopia. Den Artikel der New York Times habe ich hier für euch übersetzt und ergänzt im ein Papier von Hanzi Freinacht. (1360 Worte, 6 Min. Lesezeit)

Als Kommentar und Erweiterung dazu: Was ist der Unterschied zwischen Utopie, Eutopie und Protopie? Hier das Englische Original von Hanzi Freinacht1 und lesefreundlich als PDF (und von mir übersetzt) hier zum Runterladen. Hanzi fasst Ideen und Differenzen der drei Begriffe auf 13 Seiten äußerst anregend zusammen. Warum sollten wir das hier bei „OMEGAKURS“ lesen? Mir leuchtet hier vieles sehr ein und ich musste sofort an die drei unterschiedlichen „Reich-Gottes-Konzeptionen“ denken:

  • die klassisch-utopische: Am Ende der Zeiten kommt das vollkommene, gute, Reich Gottes. Alles bis dahin ist unvollkommen und bruchstückhaft (gefallene Welt).
  • die moderne (seit dem 19. Jh. gängige) eutopische Deutung: Das Reich Gottes zeigt sich hier und da in der praktischen Nähe (ereignet sich „schon jetzt“, wenn es auch „Noch nicht“ vollständig angebrochen ist; hier ist noch der Kompromis „Utopie“ nicht ganz verworfen, aber deutlich entmachtet worden in seiner Leitbildfunktion).
  • und die – jetzt habe ich das neue Wort für meine von Andrew Perriman geprägte Vorstellung – prototypische Reichs-Gottes-Idee, dass sich das Reich Gottes in unendlichen Brüchen und Evolutionen in der Geschichte verwirklicht. So wie es Jesus für Israel und Paulus für das imperium romanum mit ihrer Erwartung auf die epochale Wende, die sich mit der konstantinischen Wende historisch ereignete, angekündigt hatten.

Lest gerne sofort das 13-Seiten Papier mit dieser „Reichs-Gottes“-Konzeptfrage.

Hanzi beschreibt es so:

Protopia ist meiner Meinung nach die beste Bezeichnung für die zahlreichen miteinander verknüpften Projekte von Aktivisten, Denkern und Praktikern auf der ganzen Welt, die zu den notwendigen und wünschenswerten Transformationen der Gesellschaften auf der ganzen Welt beitragen wollen.

Ich habe selbst ausführlich über solche Visionen geschrieben; oft geht es dabei um den Übergang von einer modernen zu einer metamodernen Gesellschaft. Auf die eine oder andere Weise glaube ich, dass Idealisten mit sehr unterschiedlichen Projekten zu einer metamodernen planetarischen Gesellschaft und ihren kosmolokalen Ausdrucksformen in verschiedenen Weltkulturen beitragen.

Dieser Artikel ist ein Aufruf an Metamodernisten (und ähnlich Gesinnte), sich um das Projekt Protopian (oder eine Reihe potenzieller Projekte, die entdeckt und umgesetzt werden sollen) zu versammeln; ein Projekt, das sich an der Kreuzung von Fakten und Fiktion befindet.

Und versteht endlich das schon immer gefühlte Unbehagen an Utopien (und Eutopien). Oder vertieft euch noch kurz in die Geschichte, wie es zu diesem Begriff kam und wie er diskutiert wird im Folgenden (der Artikel der NYT von Joshua Needelman 14. 3. 2023):

Was ist Protopia?

Im Jahr 2009 suchte Kevin Kelly, der weißbärtige Futurist und Mitbegründer des Magazins Wired, in seinem Gehirn nach einem Wort, das es noch nicht gab.

„Entweder steuern wir auf eine Dystopie oder auf eine Utopie zu“, erinnerte sich der 70-jährige Kelly kürzlich in einem Interview und beschrieb damit die damals vorherrschenden Vorstellungen von der Zukunft. „Weder das eine noch das andere schien machbar oder gar wünschenswert zu sein.

Also prägte Kelly einen Begriff, um eine dritte Option zu beschreiben, die die Realität darstellen sollte, in der wir seiner Meinung nach bereits lebten: Protopia.

Das Konzept, das Kelly in seinem 2010 erschienenen Buch What Technology Wants vorstellte, bezieht sich auf eine Gesellschaft, die nicht alle Probleme löst (wie in einer Utopie) oder in eine katastrophale Dysfunktion verfällt (wie in einer Dystopie), sondern über einen langen Zeitraum hinweg schrittweise Fortschritte macht – dank der Art und Weise, wie der technologische Fortschritt den natürlichen Evolutionsprozess fördert.

Die Wurzel des Wortes hat viele Ableitungen, sagte Herr Kelly. „Pro wie in Fortschritt. Wie in Progression. Wie in Prototyp, früh. Wie in Pro und Contra, also Ja und Nein. Pro wie in professionell. All die positiven Aspekte von Pro, die nach vorne gehen.“

„Man kann einen Unterschied von 1 Prozent nicht sehen, es sei denn, man dreht sich um und schaut hinter sich“, sagte Herr Kelly. „Ein Prozent pro Jahr, 100 Jahre lang – das ist ein großer Unterschied.“

Protopia erregte bei der Erstveröffentlichung von Herrn Kellys Buch nicht viel Aufmerksamkeit. Aber in den letzten Jahren hat es unter Futuristen als Alternative zum bestehenden Binärmodell an Zugkraft gewonnen.

Ein Scheitern dieses Binärsystems: Viele dieser Futuristen werden darauf hinweisen, dass, historisch gesehen, eine Utopie für die einen eine Dystopie für die anderen bedeutet hat. In einer Zeit, in der die antidemokratische Stimmung weltweit zunimmt, glauben die Befürworter des protopischen Konzepts, dass es einen realistischeren, menschlicheren und potenziell integrativeren Weg in eine bessere Zukunft bietet. Doch selbst unter den Befürwortern gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wie diese Zukunft aussehen soll.

Monika Bielskyte, 36, ist Gründerin von Protopia Futures, einem Kollektiv von Denkern, die hoffnungsvolle Zukunftsvisionen erforschen. Sie ist vielleicht die bekannteste Vertreterin von Protopia – und sie ist der festen Überzeugung, dass die ursprüngliche Vision von Herrn Kelly zu kurz greift.

Herr Kelly glaubt, dass der protopische Fortschritt ein natürliches Produkt der technologischen Beschleunigung ist. Für Frau Bielskyte muss der Weg zur Protopia jedoch rigoros und inklusiv sein, insbesondere für Menschen am Rande der Gesellschaft – einschließlich derjenigen, die an der Schnittstelle von L.G.B.T.Q., indigener Bevölkerung und Behindertengerechtigkeit arbeiten. Bielskyte hofft, dass diese Vision die Menschen dazu inspirieren wird, zwar kein Paradies, aber zumindest eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, als wir sie jetzt haben.

„Wenn das Problem sozial, kulturell und politisch ist, dann muss auch die Lösung sozial, kulturell und politisch sein“, sagte sie. „Wenn die Menschheit ein bestimmtes Problem schafft, muss die Menschheit die Antwort auf das Problem sein. Technologie kann großartig oder furchtbar sein – sie ist kein magisches Allheilmittel. Sie wird immer von unseren Vorurteilen geprägt.“

Frau Bielskyte ist nicht die einzige, die das Banner des Protopianismus trägt. Micha Narberhaus ist der Gründer von Protopia Lab, einer gemeinnützigen Vereinigung mit Sitz in Barcelona, die sich für die Förderung verschiedener Ansätze zur Lösung der dringendsten sozialen und ökologischen Probleme der Gesellschaft einsetzt. Laut seiner Website ist Protopia ein Gegenmittel gegen den „Wir-gegen-die-Sie-Aktivismus“. Es ist auch ein „evolutionärer Suchprozess anstelle von ideologischen Dogmen“, so Narberhaus in einer direkten Twitter-Nachricht.

Und Protopian Futures, eine von Zev Paiss, einem Nachhaltigkeitsberater, betriebene Website, hebt bereits existierende „praktikable Lösungen“ für Probleme wie Nahrungsmittelproduktion, Wasseraufbereitung, grünes Bauen und erneuerbare Energien hervor.

„Wir müssen menschengerechte, umweltfreundliche und nachhaltige Lösungen finden, die unsere Welt zu einem besseren Ort für möglichst viele von uns machen“, sagte Paiss.

Frau Bielskyte, die von Beruf Kreativdirektorin ist, konzentriert sich mehr auf die Integration protopischer Werte in die Medien. Sie arbeitet als Beraterin mit Science-Fiction-Fernseh- und Filmemachern zusammen, um ihnen beim Aufbau von Zukunftswelten zu helfen. Bevor der Regisseur Ryan Coogler und der Produzent Nate Moore mit der Arbeit an „Black Panther: Wakanda Forever“, so Bielskyte, traf sie sich mit dem Duo, um zu besprechen, wie protopische Werte in die Gestaltung der fiktiven Welt Wakanda, in der der Film spielt, integriert werden könnten.

Frau Bielskyte hält auch Reden auf Konferenzen in der ganzen Welt, unter anderem als Hauptrednerin auf dem Ada Lovelace Festival 2022 in Berlin.

In ihrer Rede betonte sie, dass das Metaversum, das ihrer Meinung nach auf dystopischer Fiktion beruht, neu konzipiert werden muss, wobei der Schwerpunkt auf Inklusivität und Nachhaltigkeit liegen sollte. Sie verwies auf ein Zitat der Autorin Bell Hooks: „Um wirklich visionär zu sein, müssen wir unsere Vorstellungskraft in unserer konkreten Realität verwurzeln und uns gleichzeitig Möglichkeiten jenseits dieser Realität vorstellen.“

Ihre Sichtweise, so sagte sie, ist durch ihre Lebenserfahrung geprägt. Sie wuchs in Litauen auf, als das Land unter der Kontrolle der ehemaligen Sowjetunion stand – eine „lebende Dystopie“ – und ihr Großvater ist ein Überlebender des Holocaust. Als „Nachfahrin mehrerer Völkermorde“ sagte Frau Bielskyte, sie sei auch auf Hürden gestoßen, um sich in der Welt als queere, neurodiverse Frau zurechtzufinden.

Herr Kelly ist froh, dass sein Konzept neue Verfechter wie Frau Bielskyte gefunden hat. Auf eine E-Mail-Anfrage zu Protopia schrieb Herr Kelly zurück: „Protopia bin ich. Wie kann ich helfen?“ Aber er ist alles andere als territorial, auch wenn er und Frau Bielskyte bestimmte Elemente unterschiedlich sehen.

„Das bedeutet, dass es ein lebendiges Wort ist“, sagte er. „Die Menschen werden versuchen, es zu erweitern, zu modifizieren und sich zu eigen zu machen, und das ist gut so.“

Protopianer sind von Natur aus auf die Zukunft ausgerichtet, aber ihre Vergangenheit führt unweigerlich zurück zu Herrn Kellys Schreibstudio in Pacifica, Kalifornien – und dort fand sich Frau Bielskyte im Mai 2019 wieder, einen Tag bevor sie die Keynote auf einer Design Is-Konferenz hielt. Sie hatten ein, wie Herr Kelly es beschrieb, „kurzes“ freundschaftliches Gespräch über Protopia und die Richtung, in die Frau Bielskyte es geführt hatte.

Danach trennten sich die Wege der Futuristen, jeder auf dem Weg in seine eigene, idealerweise protopische Zukunft.

  1. Seit mehr als zehn Jahren widmet sich Hanzi Freinacht, der ›skandinavische Hegel unserer Zeit‹, dem Thema des politischen Metamodernismus. Seine radikale Neuerzählung gesellschaftlicher Prozesse hat unseren Blick auf Geschichte und Gegenwart nachhaltig verwandelt und vollkommen neue Wege in die Zukunft eröffnet. Sein Sprachrohr in Deutschland sind Daniel Görtz und Emil Ejner Friis, die mit seinem Werk auf das Intimste vertraut sind. Beide sind Gründer des Verlags Metamoderna, in dem 2017 Freinachts Werk The Listening Society erstmalig erschienen ist.

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