Birgit Dierks, Teil unseres Teams, ist Referentin für missionale Gemeindeentwicklung, MIDI Berlin. Dort schreibt sie in dem 122-Seiten MIDI-Kommentar (Zukunft ist jetzt) zur 6. Mitgliederuntersuchung der EKD im Nov. 2023 (S.22ff) über Chancen eines Kollaps. Mit einer eindrücklichen Präsentation auf der Tagung von MIDI bringt sie den Unterschied zwischen Metamorphose und Kollaps ins Bild, was im Folgenden zum Nachlesen als ausführlicher Text dokumentiert ist. Danke Birgit für das eindrückliche Bild.
Neben der Einschätzung, dass sich die Welt und die Kirche in einem linearen Metamorphoseprozess (Verwandlungsprozess) befinden, gibt es auch ein zweites, nichtlineares Szenario. Es kommt aus dem Forschungsfeld der Systemdynamik. Ugo Bardi erklärt in seinem Buch „Der Seneca Effekt“, warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können. Er beschreibt anhand vieler Beispiele, wie komplexe Systeme langsam wachsen, KippPunkte haben und dann unverhältnismäßig schnell zusammenbrechen.
Auch die Kirche ist ja ein komplexes System. Ich stelle mir einen Luftballon vor. Ist er nur mäßig aufgeblasen, so wird ein Nadelstich zwar ein Loch bewirken, aber die darin befindliche Luft entweicht kontrolliert langsam und könnte sogar mit einem neuen Behältnis aufgefangen werden.
Anders, wenn der Luftballon sehr prall aufgeblasen ist. Ein Nadelstich führt dazu, dass nicht nur ein Loch, sondern ein Riss entsteht und der hohe Druck die Struktur des Ballons kollabieren lässt. Er platzt und die Luft entweicht unkontrolliert.
Das Bild passt zum Parochialsystem der Kirche. Hatten noch vor den innerkirchlichen Reform und Strukturprozessen Kirchengemeinden eine überschaubare Größe, so führen seit Jahren Fusionsprozesse zu größer werdenden Kirchengemeinden und Organisationsräumen aufgrund fehlender Ressourcen. Die Bindekräfte zwischen den Mitgliedern und Mitarbeitenden werden immer geringer. Je mehr man versucht, das Parochialsystem aufrecht zu erhalten, desto mehr Druck wird erzeugt und man trägt dazu bei, dass ein Kollaps schneller eintreten wird. In den nächsten Jahren wird das System durch die Pensionierung der BabyboomerGeneration und aufgrund fehlender Nachwuchskräfte einem erneuten Druck ausgesetzt, zumal wenn sich die Kirche bis dahin nicht von ihrer Pfarramtszentrierung gelöst hat. Auch die Gesellschaft steht vor ähnlichen Problemen, was Stellenbesetzungen in zentralen Bereichen betrifft.
Dass die Rede vom Kollaps keine Krisenrhetorik, sondern eine nüchterne Feststellung ist, kann man Bardis Schlusskapitel entnehmen:
„Kollaps ist eine Eigenschaft und kein Defekt des Systems.“ Ugo Bardi, in: Der Seneca Effekt, 2017
Dies kann auch Hoffnung machen. Denn: Ein Kollaps kann eine heilsame Wirkung entfalten, wenn er dazu führt, eine alte, nicht mehr funktionierende Form zu beseitigen und Platz für die Entfaltung von neuen Formen oder neuem Leben zu machen. Ein Kollaps kann eine notwendige Exnovation unterstützen.
Wie zuvor in unserem Blog (z.B. zu „FreshX“) festgestellt, haben viele Kirchen schon „Räume“ eröffnet, um neue Formen zu erproben. Auch außerhalb der Institution Kirche lassen es sich engagierte Christen und Christinnen nicht nehmen, in Eigeninitiative neue Sozialformen von christlicher Gemeinschaft ins Leben zu rufen. Entweder selbständig oder in Kooperation mit kirchlichen, diakonischen oder gesellschaftlichen Trägern. Auch Formen, die betriebswirtschaftlich nachhaltig organisiert sind, mit wenig oder keiner Inanspruchnahme von Kirchensteuermitteln.
Folgt man in der Logik des Bildes einer Schmetterlingsverwandlung, die als eine linerare Metamorphose abläuft, kann man also feststellen, dass schon viele neue sogenannten Imagozellen vorhanden sind und auch schon Netzwerke bilden. Die Vorstellung, dass sie die Zukunft von Kirche schon jetzt abbilden und in sich tragen, hat sich jedoch noch nicht durchgesetzt. Oft werden sie als Fremdkörper angesehen und behandelt.
Zurück zum Bild des Luftballons. Stelle dir vor, in diesem meinem Luftballon sind all diese neuen Formen als buntes vielfältiges Konfetti oder in Form von farbigen Miniluftballons enthalten. Wenn dann der unvermeidliche Kollaps plötzlich kommt, werden sie konfettimäßig mit einem bunten Knall freigesetzt und können sich entfalten und z. B. als Netzwerkkirche auf neue Weise zum Wohl von Menschen wirken.
Kreativ kollabieren nennt Bardi dies und gibt drei Regeln mit auf den Weg.
- „Meide Extreme, suche den mittleren Weg“.
- „Verzehre nicht dein Saatgut“, sondern behalte immer einen Teil der Ernte, um wieder aussäen zu können.
- „Mach den besten Gebrauch von dem, was in deiner Macht liegt, und nimm den Rest gelassen hin.“
Denn Kontrolle ist eine Illusion. Unser christlicher Glaube in Bezug auf Sterben und Auferstehen sollte uns die Angst vor einem Kollaps nehmen, in dem Wissen, dass Gott neues Leben schenkt, auch wenn dafür etwas sterben muss. Beim Propheten Jesaja spricht Gott: „Siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde.“ (Jesaja 41,18)